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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


vorzutreten und uns reisefertig zu machen. Wir jubelten schon im Stillen, denn wohin sollte es anders gehen, als zu den Unsrigen, dahin, wo wir acht Tage früher thränenden Auges unsere Schiffer hatten ziehen sehen? Also leichten Herzens ging’s nach Lorient zur Eisenbahn, auf der wir alsbald dahinfuhren. Es verging Stunde auf Stunde, Deutsche sahen wir nicht. Sollte uns unser Marketender etwas vorgeschwindelt haben? Die sechszehn Meilen hatten eine bedenkliche Länge, weiter ging es und weiter, es verging ein Tag und eine Nacht, es vergingen fünf Tage und fünf Nächte. Die Sonne schien wärmer als sonst, aber statt preußischer Helmspitzen sahen wir ein Meer vor uns – wir waren in Marseille. Dort angekommen, wurden wir sogleich auf ein Schiff gesetzt und nach fünf Tagen angenehmer Reise landeten wir in Algier. Auf dieser gegen zehn Tage dauernden Fahrt speiste man uns mit Brod und Suppe und ließ uns das doppelte Tractament zukommen, das heißt also, man gab uns statt fünf Pfennige deren zehn pr. Tag. Was übrigens sich ein junger Soldatenmagen in Frankreich für zehn Pfennige auf einem Eisenbahnhofe kaufen soll, das ist mir auf der ganzen Fahrt nicht recht klar geworden und wird mir immer ein Räthsel bleiben. In Algier wurden wir von keinem Pöbel empfangen, alle Welt benahm sich anständig und es schien uns beinahe etwas zu fehlen, als die französische Begrüßungsformel ausblieb. Diese Behandlung blieb sich gleich; wir wurden zwar in der Citadelle einquartiert, es wurde uns aber ohne Schwierigkeiten erlaubt, die Straßen der Stadt, natürlich unter Begleitung, zu durchwandern, und niemals wurde uns ein böses Wort zu Theil. Bei der herrlichen warmen Sommerluft fühlte ich mich in meinen leinenen Hosen ordentlich wohl, aber ein Bad in der See nehmen zu dürfen, wurde uns zur Freude unserer Kleidergäste nicht verstattet.

Elf Tage blieben wir in Algier, da lud man uns wieder in ein Schiff, nach einer sieben Tage dauernden, stürmischen Ueberfahrt fanden wir uns wieder in Marseille, und fünf Tage später öffnete unsere Zwingburg, Fort Louis, abermals ihre Pforten. Wir fanden unsere Wohnungen in demselben Zustande, wie wir sie verlassen, und ihre zurückgebliebenen Bewohner ließen ihre Wuth an unseren müden Gliedern in verdoppeltem Grade aus! Leider muß ich noch erwähnen, daß uns bei unserer Abreise von Algier alle die Liebesgaben, die wir durch den englischen und amerikanischen Consul erhalten hatten, abgenommen und uns nur die ursprünglichen Kleidungsstücke gelassen worden waren. Auf unsere Vorstellung, daß man diese Sachen uns geschenkt habe, wurde einfach entgegnet, daß wir im Irrthum seien und die Sachen nur als geliehen zu betrachten hätten. Selbst meine Muschelsammlung, die doch nur allein für mich einen Werth haben konnte und für die mir kein Mensch einen Sou gegeben hätte, verschwand, und trauriger und ärmer, als ich ausgegangen, kam ich in Fort Louis wieder an. Endlich am 1. März hieß es, wir würden nach zwei bis drei Tagen ausgewechselt werden. Unsere Freude war unbeschreiblich und sie war diesmal nicht vergebens.

Am 4. März Nachmittags vier Uhr schaffte man uns nach Lorient. Wir bestiegen die Eisenbahn, fuhren die Nacht hindurch und langten um zehn Uhr Vormittags etwa zwei Meilen vor Le Mans an. Unser Kundschafter Lehnik hatte uns recht berichtet, die Preußen waren da. Auf dem Bahnhofe sahen wir die heiß ersehnten Pickelhauben, sie bedeuteten für uns die goldene Freiheit, nach der wir seit Monaten geschmachtet hatten. Aber auch unsere Begleiter, etwa hundertsechszig gut ausgerüstete französische Soldaten, hatten die zehn Pickelhauben bemerkt. Sie sehen, die Thüren der Waggons aufreißen, aus den Wagen springen, ehe der Zug zum Stehen gekommen war, sich rückwärts concentriren weit draußen im Felde aus dem Bereich der Zündnadel, war das Werk weniger Minuten.

Ein schallendes Gelächter unsererseits folgte den davonlaufenden Franzosen, die Helden der großen Nation ließen sich dadurch nicht stören.

„So seid Ihr schon bei Spichern und Wörth gelaufen“, rief ihnen einer unserer Cameraden nach, „und so lauft Ihr auch heute noch.“

Der Officier allein hatte Stand gehalten und vollzog durch unsere Uebergabe seine Pflicht. Durch unsere Uebergabe! Wie warm schüttelten wir den harrenden Cameraden die Hände, wie ging das Erzählen herüber und hinüber, und wie frisch athmete die Brust, wie fröhlich schlug das Herz im Bewußtsein der Freiheit, des Friedens! In diesem Augenblick auch, im Moment ihres Abschlusses, ließ ich mich durch die erlittene Trübsal zum letzten Mal bekümmern und warf das Traurige und Herbe der Erinnerung von mir, wie eine drückende, unwürdige Last. In die Zukunft, in den hoffentlich noch reichlich zugemessenen Theil meines Lebens will ich nur die Erinnerung an die großen und herrlichen Momente des glorreichsten aller Kriege mit hinübernehmen.

Wilhelm Clement.     




Deutsche Denkmäler in der Schweiz.
Auch eine deutsche Kaiserburg. – Capelle Leopold’s von Oesterreich. – Die erste Buchdruckerei der Schweiz.


Es war eine wilde und stürmische Novembernacht – es ist nun zwanzig Jahre her –, als sich mühsam durch Regen und Schneegestöber ein einspänniges „Bernerwägeli“ hindurcharbeitete. Im Ländeli (Gabeldeichsel) schaffte ein kernhafter Ackergaul. Vom Bocke herab ließ der „Karrer“, wie man hier zu Lande die Pferdeknechte betitelt, sein lebensmüdes, hochtönendes „Hi! Hii!“ von Zeit zu Zeit erschallen. Auf dem Hintersitze, unter schmalem Lederverdecke, rüttelte und schüttelte es zwei Personen: „’s Bäbeli“, die Haushälterin, und neben ihr, tief in den Mantel gehüllt, meine Wenigkeit, berufen, noch heute „vor dem deutschen Kaiser zu erscheinen“.

Es währte wohl eine Stunde lang und Roß und Reitern – denn in der Schweiz nennt man auch das Fahren „Reiten“; man sagt: Chaiserite, Sattelrite, uf em Isebah oder uf em Dampfschiff rite! – mochte es noch länger geschienen haben, ehe wir auf schmalen, holperigen Wegen das höchste Dorf zwischen Thur und Untersee erklommen hatten. Bald dann senkte sich diese gewaltige Landwelle wieder nördlich und die kleine vierräderige Arche schaukelte thalwärts. Der Regen und Schneesturm hatte sich beruhigt. Die zerrissenen Wolken hielten im blauen Aether ihr Novemberwettrennen.

Der Mond, der alte Schwerenöther, lächelte auf dieses unbekannte Stückchen Erde ebenso traulich hernieder, als wenn es meine heimathliche Scholle gewesen wäre, deren „gastfreundlichem“ Zuchthaus ich soeben entsprungen war. – Nicht lange jedoch, und ich begriff die sentimentale Stimmung der himmlischen Nachtlampe. Vor unseren Augen tauchte eine vollständig romantische Mondscheinlandschaft empor. Eilende zackige Wolken jagten über die im Sommer rebenumkränzten Hügel. Flüsternde Lüfte bewegten die dunkeln Wipfel alter Buchen und Tannen. In der Ferne rauschte ein Waldbach. Tief unten ein breiter, zauberischer silberglänzender See. Klosterglocken klangen aus nebelgrauer Ferne vom jenseitigen Ufer herüber, Kauzenruf und Rüdengebell durfte nicht fehlen, und wie vom Schooße der Erde urplötzlich geboren, stieg mitten aus diesem lieblichen Wald- und Seemärchen eine kleine, altersgraue Burg empor. Eine schmale Brücke führte zu ihr hinüber. Eine starke Eichenpforte mit mächtigem „Klopfer“ wehrte den Eingang. Ein kühngezackter Giebel verkündete die eiserne Stirn jener Zeit, die dieses Haus gebaut. Ein hoher, viereckiger Thurm beherrschte Burg, Wald, See und Gau.

Nur einige große Oekonomiegebäude hatten sich schüchtern in nächster Nähe der Burg niedergelassen. Kein Dörflein mit „Hörigen“ lag zu Füßen des Rittersitzes, keine Vasallenburg in der Nähe. Nur weit, tief unten am träumenden See, schlummerte eines der lieblichsten Dörfer des Thurgaus, das reben- und obstumkränzte Mammern. Diesem gegenüber, am jenseitigen Ufer, ruhte, ebenfalls an des plätschernden Sees Gestaden, das erste deutsche Dorf. „Deutsche Berge! Deutsches Land!“ rief ich damals wehmüthig, recht wehmüthig aus; denn damals war da drüben das Revier der Flüchtlingsjäger, und diese „Wacht am Rhein“ war eine recht traurige.

Wir sind am Ziel. Wir haben sie betreten, die „Herrschaft“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_251.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)