Seite:Die Gartenlaube (1871) 246.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ein fahrendes Lazareth.
Von Friedrich Hofmann.
2. Der Sanitätszug auf der Heimfahrt.

Gerade in diesem Augenblick, wo die Räumung der französischen Lazarethe von den Tausenden unserer Verwundeten einen Artikel der Friedensbedingungen ausmacht, haben auf den Schienen Frankreichs und Deutschlands die Sanitätszüge die wichtigste Pflicht zu erfüllen. Möge dies ihnen weniger schwer gemacht werden, als es mit dem Sanitätszug der Fall war, welchem ich mich hatte anschließen dürfen.

Derselbe fuhr am zwölften Januar früh zehn Uhr vom bairischen Bahnhof in Leipzig ab und war nach Epernay bestimmt. Von Militärzügen aufgehalten, gelangte er erst am 10. Nachts nach Nanzig und war am 20. Abends auf der Fahrt nach Chalons hin bereits bei der Station Blesme angekommen, als von der „Evacuationscommission“ zu Epernay an den dirigirenden Arzt Dr. St. der Befehl eintraf, seinen Zug auf der hier einmündenden Bahn nach Orleans zu führen. Diese nahe an hundert Meilen lange Strecke der Schienenverbindung von Weißenburg und Straßburg bis Tours, war als die südlichste im Machtbereich der Deutschen den Angriffen der Franctireurs am häufigsten ausgesetzt, erst seit ein paar Tagen von den letzten Zerstörungen wieder hergestellt und in ihrer ganzen Länge mit starken Feldwachtposten versehen, in der ersten und schlimmsten Hälfte meist von preußischer und sächsischer Landwehr. Wir hatten auf der ganzen dreitägigen Fahrt fabelhaftes Glück. Nicht selten an schauerlich aufstarrenden Trümmern von Häusern und Villen, Dörfern und Städten und zertrümmerten, über aufgerissenen Schienen entgleisten Eisenbahnwagen vorüber und, wie wir, Gottlob, erst später in den Zeitungen lasen, mehrmals zwischen „feindlichen Abtheilungen“ hin, kamen wir unangefochten an das befohlene Ziel.

Am Dreiundzwanzigsten, Abends zwischen acht und neun Uhr, fuhren wir in den Bahnhof von Orleans ein. Unser Aufenthalt daselbst schien ein sehr kurzer werden zu sollen. Die Kunde von der Ankunft des ersten Sanitätszugs an diesem fernen Lazarethorte wurde von Aerzten und Kranken mit Freude begrüßt, und schon für den zweiten Tag nach unserer Ankunft war Alles zur Beladung unserer Krankenwagen vorbereitet.

Am 25. früh neun Uhr wurde dieses Geschäft begonnen. Noch heute fühle ich das Grauen und den tiefen Schmerz nach, der mich ergriff, als ich in Leipzig dem ersten Transportwagen mit Schwerverwundeten begegnete. Es waren zwei Franzosen und deren Köpfe wackelten bei jedem Stoß des Wagens wie die von Todten hin und her. Dasselbe Gefühl wollte wieder Herr über mich werden, als man die ersten Bahren mit Verwundeten und Kranken herbeitrug und auf dem Perron des Bahnhofs hinstellte. Diesmal galt es aber, alle Scheu und alles Grauen niederzukämpfen, denn mein Wille und meine Pflicht war, hier, so viel ich vermochte, helfende Hand mit anzulegen. Vor der Hand waren die Kranken ganz in Wollendecken eingehüllt, ihre Verstümmelungen waren dem Anblick entzogen, und aus den Augen Aller, ohne Ausnahme, leuchtete das Gefühl der Freude über die Hoffnung, in die Heimath zurückzukommen. Nach und nach füllte sich der Perron, die Bahren standen zu Dutzenden da, denn das Hereinheben der Einzelnen in die Krankenwagen und in die Betten ging nicht so rasch vor sich, als das Herbeischaffen aus den Lazarethen der Stadt. Uebrigens mußten nicht alle Verwundeten und Kranken getragen werden, manche humpelten, von zwei Cameraden geführt, daher, andere wurden von kräftigen Männern rittlings auf dem Rücken herzugetragen und einige, namentlich an den Armen Verwundete und Brustkranke, kamen auch nur von einem Cameraden geführt zu den Krankenwagen.

Bis drei Uhr waren hundertsiebenundsechszig Verwundete untergebracht. Die letzten schwer Transportabeln wurden in den letzten, außerhalb der Halle im Freien stehenden Wagen gleich auf den Bahren hineingeschoben. Eben hob man einen solchen, der einen Fuß verloren hatte, zur Plattform des Wagens hinauf und vier lagen noch auf ihren Bahren davor, als ein Eisenbahnzug herbeikam, voll von neuen und blutjungen Truppen mit nagelneuen sauberen Uniformen und frischen Gesichtern mit kräftigrothen Backen. Der Contrast war ergreifend. Ich sah manches dieser Antlitze sehr ernst und lang werden und manches sich verfärben. Sie hatten so fröhlich zum Bahnhof herein gesungen, aber Wagen um Wagen, wie er vor dieser Scene vorüber fuhr, schwieg, und als alle vorbei waren, waren auch alle still geworden.

Punkt vier Uhr sollte der Sanitätszug abfahren, in Tonry warteten noch zwölf Verwundete auf ihn. Da, nur noch fünf Minuten vorher, meldete eine telegraphische Depesche aus Sens, bei La Rochelle hätten die Franctireurs eine Eisenbahnbrücke gesprengt. Der Zug mußte bleiben, um genauere Nachrichten abzuwarten. Anstatt einer tröstlichen Kunde kam die von der Zerstörung einer zweiten und noch wichtigeren Brücke, der bei Fontenay, zwischen Toul und Nanzig.

Die Erklärung der Sachverständigen, daß unter acht bis vierzehn Tagen die Herstellung von Nothbrücken nicht möglich sei, führte die Nothwendigkeit herbei, sämmtliche Kranke und Verwundete wieder auszuladen und in ihre Lazarethe zurückzubringen. Das war eine harte, aber unumgängliche Maßregel. Der Sanitätszug darf nicht mehr sein wollen, als er ist: ein möglichst bequemes Transportmittel für die Verwundeten, aber nicht Heilanstalt, nicht Lazareth; wie der Gesunde muß auch der Kranke sich während der Fahrzeit mancherlei Beschränkungen seiner Lazarethgewohnheiten und Bequemlichkeiten gefallen lassen, die ihm solange nicht lästig sind, als die fahrende Bewegung ihn dafür mit der Freude entschädigt, der Heimath mit jedem Ruck näher zu kommen; denselben Beschränkungen und Bequemlichkeitsentbehrungen wochenlang ausgesetzt sein, das würde die Mehrzahl der Kranken unerträglich gefunden haben. Dies wurde den so bitter getäuschten Insassen der Krankenwagen so mild und freundlich, als nur möglich, zu Herzen geführt, und so fügten sich Alle der Nothwendigkeit, aber nicht Alle auf einmal; einzelne der Kranken, namentlich Officiere, hatten bis zum fünften Tage die Hoffnung auf die rascher ermöglichte Abfahrt festgehalten, bis auch sie von der Vergeblichkeit derselben überzeugt waren. Der Anblick der Armen, wie sie mühsam von ihren Betten wieder herabgehoben und auf die Bahren gelegt wurden, um dahin zurückgetragen zu werden, wo sie, wenn auch dankbar, doch gern geschieden waren, die Verstimmung, die sich in den verschiedensten Graden der Aeußerung kund gab, war mir fast schwerer zu ertragen, als die erste grausige Erscheinung der entsetzlichen Verstümmelungen. Ein brustkranker Holsteiner war während der einen Nacht im Wagen gestorben; das gab wenigstens einen Fingerzeig für die möglichst sorgsame Auswahl der Kranken für den Sanitätszug.

So stand nun die stattliche Reihe der achtundzwanzig Wagen da, „vom Vaterland getrennt“, und einzig darauf angewiesen sich in ihr Schicksal zu fügen und höchstens den Kriegszustand zur vorsichtigen Füllung ihrer Depotwagen durch Requisitionen zu benutzen, um die Kosten der Unterhaltung des Zugs dem Staate nach gesetzlicher Möglichkeit zu erleichtern. Das war die schwere Aufgabe für den Inspector H., der dabei eine Umsicht und Thätigkeit entfaltete, die unsere Bewunderung verdiente.

Auch in Orleans gab es Zeichen der nahen Kriegsgefahr; nicht nur wurden fast täglich Gefangene aus den Gefechten mit den Franctireurs eingebracht; auf den beiden Loirebrücken standen Doppelposten an höchst verdächtigen Stellen, wo sie jedem Vorübergehenden das Rauchen untersagten: man hatte hier Minen gelegt, um bei einem Angriff vom linken Ufer her durch Sprengung beider Brücken die Stadt vor einem Ueberfall zu sichern.

Wir erlebten in Orleans noch die Capitulalion von Paris und feierten sie, aber sie half für unsern Zweck uns nichts, weil auch die directe Eisenbahnverbindung von Paris mit Lagny noch nicht hergestellt war. Erst am 6. Februar kam die Nachricht, daß die ganze Bahnstrecke von Orleans bis Nanzig wieder fahrbar sei und der Sanitätszug am Neunten seine Rückkehr antreten solle.

Diesmal war das Einladen der Verwundeten und Kranken bereits geschehen, als ich am Achten Nachts von meiner Pariser Fahrt zurückkam. Am Neunten früh noch einen Abschiedsgang durch Orleans, und Nachmittag vier Uhr erschallte das Hurrah, welches die zahlreich auf dem Perron versammelten Cameraden den in die deutsche Heimath Abfahrenden nachriefen.

Als die Thürme der prächtigen Kathedrale zum heiligen Kreuz

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_246.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)