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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


„Schweig, Jane!“ unterbrach sie Forest heftig. „Das sind Dinge, die Du nicht verstehst und nie verstehen lernst! Ich habe bei Deiner Mutter kein Verständniß gefunden, das weiß ich, sie hat mich unglücklich gemacht, ja! und dennoch hat sie mir Stunden des Glückes gegeben, die Du Deinem Gatten nie geben wirst – nie, Jane! Freilich, Mr. Alison wird ihrer auch nicht bedürfen.“

Jane schwieg, sie war es bereits gewohnt, den Vater in der Krankheit seltsam reizbar und bisweilen ganz unbegreiflich zu finden. Mit der Schonung, die man einem Kranken schuldet, ertrug sie auch jetzt diesen heftigen Ausbruch und nahm schweigend ihren Platz am Bette wieder ein.

Nach einigen Minuten wendete sich Forest wieder zu ihr. „Verzeih’ mir, Kind!“ sagte er dann milder, „ich war ungerecht. Du bist geworden, wie ich Dich erzog, wie ich Dich haben wollte, und ich bereue noch jetzt nicht, Dir diese Richtung gegeben zu haben. Du wirst den Kampf mit dem Leben besser bestehen, als Deine schwache, zarte Mutter. Laß das ruhen, es war ja etwas Anderes, was Du von mir hören solltest – Weißt, Du, daß Du einen Bruder hattest?“

Jane schreckte empor, ihr Auge heftete sich in fragender Spannung auf den Vater.

„Als Kind habe ich bisweilen davon gehört, aber später sprach man nie wieder davon zu mir. Er ist todt?“

Ein schwerer Seufzer hob Forest’s Brust. „Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Wir haben nie Gewißheit darüber erlangen können. Ich verbot schließlich, seinen Namen zu nennen, weil Deine Mutter der Erinnerung zu erliegen drohte, vergessen hat sie ihn dennoch nie.“

Mit athemlosem Interesse beugte sich Jane näher über den Vater, er faßte ihre Hand und behielt sie in der seinigen.

„Du bist nicht fremd in der neuesten Geschichte Deines Geburtslandes, Jane, Du kennst die Bewegung, welche im Anfange der dreißiger Jahre ganz Deutschland und zumal die deutschen Hochschulen ergriff. Ich studirte gerade damals, und der zwanzigjährige Jüngling flammte auch auf, wie so viele seiner Gefährten, für die Idee der Freiheit und Größe seines Vaterlandes. Der Staat antwortete uns auf dies Verbrechen mit dem Todesurtheil, das bei mir, im Wege der Gnade, auf ‚dreißig Jahre Festung‘ umgewandelt ward. Sieben davon habe ich ertragen müssen, wie, das hast Du oft genug von mir gehört, ich mag die Erinnerung daran heut nicht wieder wach rufen. Ihr Gutes haben selbst diese Jahre gewirkt, sie machten den Jugendträumen und Jugendidealen ein Ende für alle Zeit, und als endlich die Amnestie kam, da war im eisernen Druck des Kerkers, in endlosen Demüthigungen, im glühenden Hasse der Mann gereift, der den Kampf mit dem Leben und dem Elend besser aufzunehmen und zäher auszuhalten wußte, als der zwanzigjährige Träumer.“

Forest schwieg einen Augenblick, aber die harte wilde Bitterkeit, welche jetzt in seinen Zügen lag, und die sich fast noch herber in Jane’s Antlitz widerspiegelte, zeigte, daß ihr diese Erinnerungen nicht fremd waren, und daß die Tochter darin von jeher die Vertraute des Vaters gewesen war.

Nach einer kurzen Pause begann dieser von Neuem: „Kaum war ich frei, so beging ich die Thorheit zu heirathen. Es war ein Wahnsinn in meiner Lage, aber ich hatte mich bereits auf der Universität mit Deiner Mutter verlobt, sie hatte Jahre lang meiner geharrt, eine glänzende Lebensstellung ausgeschlagen um meinetwillen, und jetzt stand sie allein und verlassen da, als Waise, der Gnade und Härte Fremder preisgegeben, das konnte ich nicht ertragen, eher wagte ich Alles. Wir wurden getraut, und ein Jahr darauf ward Dein Bruder geboren. Dir,“ hier streifte ein langer, fast schmerzlicher Blick das schöne Antlitz der Tochter, „Dir glich er nicht, Jane. Er war blond und blauäugig wie seine Mutter, aber eine reine Freude vermochte auch sein Besitz mir nicht zu geben. Die ersten acht Jahre meiner Ehe waren die dunkelsten meines Lebens, furchtbarer als selbst die Zeit auf der Festung. Dort stand und litt ich wenigstens allein, hier galt es für Weib und Kind und mit ihnen den Kampf gegen das Elend, das mit all’ seinen Schrecken herandrohte. Meine Laufbahn war natürlich vernichtet, meine Verbindungen zerrissen! was ich auch begann, was ich unternahm, dem Demagogen schlossen sich alle Thüren, entzog sich jeder Erwerb. Ich habe damals meine beste Kraft eingesetzt, und im Ringen um das tägliche Brod das Aeußerste gethan, und doch genügte selbst dies Aeußerste nicht immer, die Meinigen vor dem Mangel zu schützen. Wir wären ihm vielleicht erlegen, da kam das Jahr Achtundvierzig, und da zeigte es sich, daß der alte Träumer noch immer nicht gelernt hatte, mit seinen Idealen abzurechnen. Er ließ sich wieder verlocken, er folgte zum zweiten Male dem Sirenengesang, um auf’s Neue am Felsen zu scheitern. Ich brachte Weib und Kind bei Verwandten in Sicherheit, und warf mich mitten in den Strom der Bewegung. Du weißt, wie sie endigte! Unser Parlament ward gesprengt, der Kampf in Baden brach aus, ich war einer der Führer der Revolutionsarmee, wir wurden geschlagen, vernichtet. Hatte ein günstiges Geschick mich das erste Mal vor dem Aeußersten bewahrt – jetzt war ich vogelfrei! Aber ich wollte nicht wieder, und diesmal vielleicht für immer, dein Kerker verfallen, ich wollte die Meinen nicht rettungslos dem Untergange preisgeben, deshalb beschlossen wir die Flucht nach Amerika. Mein Schwager streckte mir die dazu nöthige Summe vor, vielleicht aus gutem Herzen, vielleicht auch, um den berüchtigten Demagogen, die Schande der Familie, endlich los zu werden. Es galt Vorsicht, denn schon ward eine Hetzjagd auf uns veranstaltet, durch ganz Deutschland.

Verkleidet, unter fremdem Namen gelangte ich nach Hamburg, wo meine Frau mit den Kindern mich erwartete. Du warst mir während der letzten Monate geboren worden. Armes Kind, es war eine böse Stunde, in der ich Dich zum ersten Male an’s Herz drückte! Mit dem ersten Kuß des Vaters fiel auch die Thräne glühenden Hasses, bitterer Verzweiflung auf Dein kleines Gesicht – ich fürchte, sie hat einen Schatten auf Dein ganzes Leben geworfen, ich habe Dich nie unbefangen froh wie andere Kinder gesehen. Wir gingen erst kurz vor der Abfahrt an Bord, getrennt, um kein Aufsehen zu erregen. Deine Mutter, Dich auf dem Arme tragend, schritt voran, ich folgte in einiger Entfernung, meinen Knaben an der Hand. Da erblickte ich unmittelbar an der Schiffstreppe ein unheilvolles Gesicht; der Späher kannte mich, wie ich ihn; wenn er mich erblickte, war ich verrathen. Rasch entschlossen befahl ich dem Knaben, der Mutter zu folgen, er war alt genug, und er sah sie noch vor sich – ich selbst warf mich in das dichteste Gewühl des Hafens. Eine Stunde später war der Spion verschwunden und es glückte mir, unbemerkt an Bord zu gelangen. Meine Frau, auf eine mögliche Verspätung meinerseits vorbereitet, eilt mir entgegen, ihre erste Frage ist nach dem Kinde, in wenigen schreckensvollen Worten verständigen wir uns, es ist ihr nicht gefolgt, es muß noch am Lande sein. In Todesangst eile ich zurück, ohne die drohende Gefahr zu achten, ich frage und suche den ganzen Hafen auf und nieder, Niemand hat den Knaben gesehen, Niemand vermag mir Auskunft zu geben. Daß ich damals, trotz meiner Aufregung, der Entdeckung entging, daß der Späher gerade in jener Stunde fern war, habe ich später als ein halbes Wunder ansehen lernen, in jenem Augenblick dachte ich kaum daran. Das Signal zur Abfahrt ertönte; wenn ich blieb, war ich verloren, und Weib und Kind schwammen verlassen und hülflos auf dem weiten Ocean einem fremden Welttheil entgegen. Die Wahl war schrecklich, aber kurz! Wie ich das Schiff betrat ohne mein Kind, wie ich die Küste schwinden sah, an der es allein zurückblieb, Allem preisgegeben – nun, die Heimath ließ mich in dem Moment, wo ich mich auf ewig von ihr losriß, noch einmal die Bitterkeit eines ganzen Lebens auskosten, er drückte das Siegel auf unser Scheiden und auf die Erinnerung.

Noch am Tage der Landung in New-York schrieb ich an den Bruder meiner Frau, aber es waren bereits Wochen vergangen, ehe der Brief abging, es vergingen noch Wochen, ehe er anlangte. Mein Schwager nahm sich der Nachforschungen mit warmem Eifer und redlicher Theilnahme an, er reiste selbst nach Hamburg, er that alle möglichen Schritte – umsonst, auch nicht die kleinste Spur wurde aufgefunden, unser Kind war und blieb verschwunden.“

Forest schwieg, er athmete schwer und tief, aber Jane, in leidenschaftlicher Spannung vorgebeugt, dachte nicht daran, eine Aufregung zu hindern, die ihm gefährlich, vielleicht tödtlich werden konnte, dergleichen rücksichtsvolle Zärtlichkeiten lagen nicht in dem Verhältniß zwischen Vater und Tochter. Sie hatte ein Geheimniß zu hören, ein Vermächtniß zu empfangen, und wenn er darüber zu Grunde ging, das hielt ihn so wenig ab, das Nothwendige auszusprechen, als sie, es zu hören, es mußte nun einmal geschehen. Nach einer kurzen Pause der Erholung fuhr er wieder fort.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_228.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2017)