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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

und viel Volk ohne die Rührigkeit und Beweglichkeit, welche ein bestimmtes Ziel und Streben in die Glieder bringt, und welche ja das „glückliche Paris“ als ein besonderes Kennzeichen seiner unternehmenden Bewohner rühmte. Hier war offenbar eine der Heimstätten jenes unglücklichsten Theils des Mittelstandes, welcher sich zurückzieht, wo gefordert, und sich schämt, wo gebettelt wird, d. h. Das, was wir den unverschämten Straßenarmen gegenüber den „verschämten Hausarmen“ nennen. Bei den Männern mochte das Gewand täuschen, denn etwas Militärisches hatte Jeder an sich und wär’ es nur die rothe Streife an der Hose oder Mütze, auch hatten sie vielleicht wirklich weniger gelitten; aber in die Gesichter der armen Frauen war das bittere Leiden förmlich eingeschnitten, da hatten Hunger und Thränen entsetzliche Furchen gezogen. Ueberhaupt – wenn der Antheil des Heldenmuths bei der Vertheidigung von Paris gemessen wird, so gebührt den Frauen, und vor Allen den Müttern der größte Theil: sie haben das Ungeheuerste ausgestanden, sie

Auf dem Friedhofe zu Bar le Duc.
Nach einer Photographie.

haben ihre Kinder dahinsterben sehen müssen, weil sie für sie keine Nahrung, keine Milch und keinen Ersatz für Milch mehr hatten, kein Ei, keinen Zucker, kein Weißbrod, kein Mehl, keine Butter, und an der rauhen Kost, welche der kräftige Organismus noch leidlich überwand, gingen namentlich Kinder unter einem Jahr über zehntausend zu Grunde!

Und dagegen war noch während meiner Anwesenheit keine genügende Hülfe geschafft: während noch keiner Stunde waren schon sieben Kindersärge an mir vorüber getragen. Noch am selben Abend belehrte mich La petite Presse, welche ich unterwegs gekauft, über diese Zustände. Jetzt folgte ich der allgemeinen Strömung, die Männer, Weiber und Kinder nach einem Ziele lockte. Der Menschenstrom stemmte sich vor einem Hause zur Linken, und bald war die Ursache zu riechen: hier begann eben der Brodverkauf oder eine Brodvertheilung, dahinter kam ich nicht. Aber hier sah ich zuerst selbst Frauen in anständiger schwarzer Tracht und selbst zwei Priester, letztere mit Tragkörbchen am linken Arm, um der lieben Gottesgabe willen mit in der Menge stehen. Uebrigens herrschte hier kein Schreien und Drängen; der furchtbare Ernst des Lebens hatte die Zungen gebändigt.

Um einer Procession auszuweichen, kam ich von den Boulevards weit links ab und nach vielen Irrgängen, endlich mich nordwärts haltend, auf den Quai de la Tournelle. Auf diesem ganzen Wege – ich war drei Stunden gelaufen, der Tag neigte sich zum Abend – hatte sich immer dasselbe Straßenbild wiederholt: überall ganz und halb uniformirte Gruppen und Züge von Männern und jungen Burschen, Zeitungsverkäufer, bettelnde Kinder, die Frauen der untern Stände außer den fast immer reinlich weißen Hauben in ziemlich verwahrloster Toilette, die wenigen schwarzgekleideten Frauen meist verschleiert, häufiges Trommeln bei Wachthäusern der Nationalgarde, halbe Knaben mit Chaffepots und rothgestreiften Mützen, nur hier und da ein zweirädriger Karren, fast nirgends ein Geschirr, kein Omnibus, kein Fiacre, und Alles trübselig, wie der Regentag – sodaß schließlich das Beobachten von Alledem von selbst aufhörte.

Ich habe Ihnen gestern geschrieben, wie übel es mir mit meinen Versuchen erging, mein preußisches Geld zu verwerthen. Nachdem ich auch mit einem Zehnthalerschein so schlechte Ehre eingelegt hatte, stand ich mit meinem blauen Proviantpäckchen allerdings wie Einer da, dem die Hühner das Brod gestohlen haben. Drüben, jenseits der Seine, die ich nun in Paris zum ersten Mal sah, that sich erst die Pracht der Weltstadt auf, da ragten Paläste und Dome und wogte ein ganz anderes Massenleben, als ich bisher gesehen, – und ich mitten darin ohne Geld! – Indeß hieß es auch da: rasch entschlossen! Ich durfte die Versuche, mein preußisches Geld anzubringen, nicht fortsetzen; diese Thaler und mein entschieden thüringisches Französisch konnten mich zu leicht als „Prussien“ verrathen, und den politischen Zauber der österreichischen Münze kannte ich noch nicht. Ich beschloß, sofort nach Vitry zurückzukehren, und schlug den Weg rechts der Seine entlang ein. Endlich hielt ich’s für gut, mit etlichen Sousstücken in der Hand einige Knaben nach der „Gare d’Orléans“ zu fragen. Während von den Jungen jeder sich nach den Sous herandrängte und alle durcheinanderschrieen, wandte sich von einer Gruppe Erwachsener ein junger Mann zu mir, warnte mich vor den Buben und erbot sich, mir den gewünschten Weg zu zeigen. Ich nahm das freundliche Anerbieten natürlich sehr dankbar an, warf aber doch die Sousstücke den Jungen zu, die sich nun wacker darum balgten und uns ohne Nachlauferei gehen ließen.

In diesem jungen Mann nun erkannte ich, nach kurzer Unterhaltung, so viel Bildung und gutes Herz, daß ich mich ihm ohne Weiteres anvertraute, – und ich hatte es nicht zu bereuen. Wenn Jahre des Friedens Paris der deutschen Reiselust wieder erschlossen haben, dann kann ich denen, welchen es um einen ebenso unterrichteten wie grundbraven Führer zu thun ist, keinen bessern empfehlen, als meinen jungen Freund, und werde seine Adresse gern mittheilen; seinen Namen sogleich zu nennen, möchte um seiner selbst willen nicht rathsam sein.

„Aber nun, mein Freund, eilen wir zu einem wo möglich recht nahen Ort, wo es ein gutes Glas Wein und Etwas zu essen giebt!“ Dieser Stoßseufzer meiner deutschen Natur, die sich stark regte, fand Anklang auch im französischen Herzen, und bald saßen wir bei einem Restaurant am Boulevard de l’Hopital gemüthlich in einer Ecke einander gegenüber. Ich hatte mit meinem Führer, Herrn P., unter Anderm die Verabredung getroffen, daß er mir Alles, was meine Person ganz besonders angehe, zu meinem sicheren Verständniß aufschreibe. Jetzt schrieb er mir auf, ich möge sofort diniren, weil er später nicht dafür stehen könne, daß ich noch etwas Gutes bekomme. Währenddeß wolle er eine „Auberge“ für mich suchen. Er führte mich in’s nächste Zimmer, bestellte für mich ein Diner nach der „Carte du jour,“ lehnte meine Einladung dazu ab und ging. Ich lehnte mich an ein einsames Tischchen, legte vorsichtig mein blaues Proviantpäckchen daneben auf einen Stuhl und harrte nun seltsam gespannt der Dinge, die da kommen sollten.

Angesagt war mir: „Bouillon, Roastbeef und Confitures“, ein Teller mit Brod und eine Flasche Wein machte die Einleitung. War dies das verschrieene Belagerungsbrod das aus Kleie, Gerste, Hafer und Sägespähnen bestand und so viel Siechthum und Todesfälle verursacht haben soll? Ich schnitt ein Stück ab und versuchte es, nach eifriger Voruntersuchung nach dem letzteren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_205.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)