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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


nicht so streng hätte nehmen sollen! Konnte er doch nicht wissen, welchen Kummer oder Verdruß sie vielleicht gerade an diesem Morgen gehabt, und hatte er doch schon oft genug an sich selbst erfahren, daß man in unguter Stunde die Worte eben nicht auf die Goldwage legt. Und hatte das Mädchen denn so Unrecht, wenn sie ihn für einen zudringlichen Bettler oder Vagabunden hielt? Gab es doch derlei Leute hie und da im Lande, und mußte er nicht sich selbst gestehen, daß sein Anzug und sein ganzes Aussehen wohl darnach gewesen, um ihn mit Einem von diesem Gelichter zu verwechseln? Das war allerdings vollkommen einleuchtend; wenn er aber dann mit sich selber darüber grollte, weil er sich wegen der Dirne so sehr vom Aerger hatte hinreißen lassen, so bedurfte es nur einer zufälligen Bewegung, die seine Hand nach Brust oder Hals führte, so war das übergenug, um den Groll wieder von sich auf das Mädchen abzuleiten. Um den Hals hing an einer starken Schnur ein kleines Lederbeutelchen herab, welches nach hinten geschlossen, nach vorn aber offen eine kleine Geldmünze erkennen ließ und wie ein Kleinod verwahrt hielt – es war der verhängnißvolle Sechser vom Jachenauer Bocktanz. Wenn er diesen berührte, kam, wie losbrechendes Wildwasser, der alte Grimm über ihn. Krampfhaft faßte und hielt er die sonderbare Medaille, mit dem alten Unmuth kamen auch die alten Gedanken wieder und das alte beim Umhängen und Fassen des Sechsers gemachte Gelöbniß, nicht zu ruhen, bis er Gelegenheit gefunden, sich für den Schimpf und Spott, der ihm angethan worden, volle Genugthuung zu schaffen.

Er zerdrückte eben einen halblauten Fluch zwischen den Zähnen, als ein Geräusch wie das Rieseln von abbröckelndem Gestein ihn abermals aus seinem Brüten aufstörte. Er horchte auf und wollte eben aus der Hütte eilen, um nachzusehen, ob nicht etwa von der Felswand, an die sie sich lehnte, ein Stein sich zu lösen beginne und ihr Gefahr drohe. Er kam aber nicht bis an den Ausgang, denn das Geräusch ging, immer stärker und stärker werdend, in das eines Falles über. Halb stürzend, halb springend, kam ein Mann über die Felswand herunter, ihm bis fast vor die Füße getaumelt.

„Holla, was giebt’s da?“ rief Martl zurückspringend und streckte den Arm aus, um das an der Wand hängende Beil zu ergreifen, unterließ es aber, denn trotz der einbrechenden Dämmerung erkannte er, daß von dem Manne, waffenlos, verrissen und von dem Falle geschunden, wie er war, eine Gefahr nicht zu befürchten war, obwohl er mit dem wirren grauen Bart und Haar und dem verwitterten Gesicht keinen sehr freundlichen Anblick bot.

„Laß Dein’ Hacken hängen!“ keuchte der Mann in einer Mundart, welche die Nähe der Tiroler Grenze verrieth. „Ich hab’ kein Arg’s im Sinn. Ich bin nur so viel müd’ und hab’ mich nit mehr halten können auf dem steilen Weg! Gieb mir ein’ Bissen zu essen! Ich bin ganz hin vor Hunger und verschmacht’ beinah’ vor Durst.“

„Das kannst hab’n,“ entgegnete Martl; „dort steht noch meine ganze Mahlzeit. Laß Dir’s schmecken! Ein Glasl Kranawitter (Wachholder) wird’s auch noch leiden.“

Während der Fremde heißhungrig über den Holzteller herfiel, war Martl in die Kammer getreten, hatte von dem Gesimsbrette eine Flasche heruntergeholt und das einzige Glas gefüllt, das in der Hütte zu sehen war. „Da trink’!“ sagte er heraustretend. „Wer bist, Mann? Wo kommst her und zuwegen was bist so erlegt?“

„Wer werd’ ich sein?“ sagte der Mann, nachdem er das Glas ausgestürzt. „Ein armer Teufel bin ich halt … hab’ mir ein paar Groschen verdienen wollen und hab’ mich vom Teufel blenden lassen, ein Bissl Tabak und andere Waar’ aus Tirol über die Grenz’ herüber zu tragen! Da haben mich die Grenzjäger erwischt, mit genauer Noth hab’ ich den Pack noch weggeworfen und hab’ mich in die Felsen g’flücht’t; aber ich bin nit bekannt in der Gegend und so hab’ ich mich verstiegen und bin schon den ganzen Tag in der Irr’ herumgekrapelt und hätt’ zu Grund’ gehen müssen, wenn ich nit zuletzt das Rinnsal von ein’ Wildwasser g’funden hätt’! Dem bin ich nachgangen, und so bin ich zu Dir ’kommen und bin froh, daß ich mir nit den Hals gebrochen hab’. Aber wo bin ich denn eigentlich?“ unterbrach er sich dann, indem er während des Essens mit scheuem Blicke um sich sah.

„Wo wirst sein?“ erwiderte Martl. „Wenn Du über’n Berg hinunterkommst, bist in der Jachenau. Dort kannst ausrasten und über Nacht bleiben. Wird Dich wohl nit g’rad’ Einer von dene Grenzjäger aufgehen, und morgen kannst nachher schauen, wie Du ’nüberkommst nach Wallgau oder Mittenwald zu.“

„Dank’ schön, Camerad!“ sagte der Bursche. „Aber ich hab’ kein Zeit … will schon lieber heut noch hinunter in die Jachenau. Da bin ich nit zum ersten Mal; ich kenn’ die Weg’ und will heut’ noch hinaus bis an die Wegscheid’; morgen werd’ ich mich schon durchschleichen durch die Riß und in mein Heimathl hinein!“

„Wie Du willst,“ entgegnete Martl, indem er den Burschen seitwärts etwas schärfer in’s Auge faßte. „Ich werd’ Dich nit aufhalten. Kannst gar nit fehlen; geh’ nur dem Waldweg nach, bis Du zu einer Kohlhütt’n kommst! Die liegt gleich unten, ein’ Büchsenschuß weit, wo die Holzriß ist. Kannst auch gleich auf der abfahren, wenn Du’s gar so eilig hast und wenn Du Schneid’ hast.“

„B’hüt’ Gott!“ sagte der Bursche, indem er das noch einmal gefüllte Glas leerte und sich aufrichtete. „Ich dank’ Dir schön für Dein’ Unterstand, Holzknecht! Wenn ich einmal kann, werd’ ich Dir’s vergelten.“ Damit sprang er bei Seite und war im Augenblick gleich einem Thiere in den Gebüschen verschwunden, deren Schwanken und Knicken den auch jetzt so ungewöhnlichen Weg verrieth, den er nahm.

„Ich brauch’ Dein’ Dank nit,“ rief ihm Martl nach. „Ist Dir geschenkt; will keine Abraitung mit Dir haben! Das ist einmal ein besonderer Bursch,“ sagte er dann kopfschüttelnd. „Ich mein’ alleweil’, ich kann’s errathen, was das für eine Waar’ ist, die der von Tirol ’rübertragen hat.“

Martl hatte während dessen das Eßgeschirr bei Seite geräumt und gewahrte darüber einen Mann, der aus dem Waldabhang hervorgekommen war, nicht eher, als bis er neben ihm stand. Der grobe Zwilch des Hemdes, das Martl’s kräftige Schultern und Arme bedeckte, ließ an Aussehen und Farbe erkennen, daß die Sonne manchen heißen Tages darauf herniedergebrannt hatte; dennoch glich er noch frischgefallenem Schnee, gegen das Hemd und die Zwilchhose gehalten, ist denen der Ankommende steckte.

„Grüß’ Gott!“ sagte derselbe, indem er sich ohne Weiteres wie ein guter Bekannter auf den Herdrand setzte. „Mein Meiler brennt; ich laß ihn ein Stündl allein rauchen und hab’ meinem Buben gesagt, daß er darauf Obacht geben soll. Ich will ein Bissel zu Dir in Heimgarten kommen; es ist so schön bei Dir heroben. Drunten unter meinen Buchen ist’s beinah’ schon völlig Nacht … Hast schon Besuch gehabt, soviel ich gesehen hab’,“ fuhr er fort. „Ich hab’ ihn unter den Bäumen gegen mich herkommen sehen und hab’ ihn angeschrieen, weil ich gemeint hab’, es wär’ der Forstgehülfe von der Jachenau. Da ist er umgeschlagen wie ein Fuchs, in den Wald hinein und nachher über die Riß ’nunter, als wenn er auf einem Schneeschlitten säß’.“

Ehe Martl antworten und die Sache erklären konnte, wurden abermals Schritte hörbar, und bald darauf kam ein dritter Gast an der entgegengesetzten Seite um die Felsecke hervor, auf welcher ein schmaler Steig zu den Höhen hinaufführte, auf denen die Grasmatten und Almweiden sich ausbreiten, mit Sennhütten bestreut und umkränzt von den Felswänden, auf denen die Gemsen hausen. Der Waidsack auf dem Rücken des Mannes ließ in dem Ankömmling ebenso wie die Doppelbüchse und die graue Joppe mit grünem Kragen den Jäger erkennen. Es war ein hochaufgeschossener, stattlicher Bursche, dessen ganze Erscheinung auf Kraft und Ausdauer schließen ließ; beide aber schienen ihn nahezu völlig verlassen zu haben; denn mit einbrechenden Knieen und das Gewehr nach sich schleifend, schleppte er sich mühsam gegen die Holzhütte hin.

„Ja, seid Ihr’s denn Herr Forstgehülf’?“ rief Martl, indem er aufsprang und ihm mit dem Kohlenbrenner entgegeneilte. „Ihr seid ja völlig erlegt! Was ist Euch denn passirt?“

„Es ist nichts Besonderes,“ entgegnete schwer athmend der Jäger, indem er, von Beiden geleitet, nach der Hütte wankte. „Auf einmal haben meine Füß’ ausgelassen, und wenn die Hütte noch hundert Schritt’ weit gewesen wär’, hätt’ ich’s nimmer machen können. Gieb mir nur einen Trunk Wasser, Martl, und laß mich sitzen; dann werd’ ich mich wohl bald wieder zusammenklauben!“

„Aber was hat’s denn gegeben?“ rief Martl wieder, nachdem er mit einer Schüssel aus der Quelle geschöpft, welche nebenan über die Felsen heruntergetröpfelt kam und am Fuße derselben sich in einen kleinen Tümpel sammelte. „Jetz’ seh’ ich’s erst, das Blut ist Euch unter’m Hut heruntergelaufen und auf dem ganzen Gesicht und am Gewand eingedorrt.“ …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_158.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)