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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Geschütze, wegen deren sich der Mont Valerien einen Namen erworben, denn seine Geschosse hatte er über eine deutsche Meile in das Land hinein gesandt.

Die bedeutendste Kanone ist die sogenannte Valerie, deren inneres Rohr genau eine halbe Leipziger Elle im Durchmesser hat. Sie ist das größte Geschütz, das die Franzosen haben, und schießt etwa einen Hundertdreizehnpfünder.

Es wird übrigens nöthig sein, dem Leser ein paar Worte über das Gewicht der Geschosse zu sagen, so daß er sich leichter hineinfinden kann, wenn er von Zwölf-, Vierundzwanzig- und Achtundvierzigpfündern hört. Den Ausdruck hat man nämlich von den alten Steinkugeln angenommen, so daß sich das Gewicht in Eisen natürlich um ein Bedeutendes erhöht. Man rechnet die genannte Zahl als etwa ein Drittel des Gewichtes bei größeren Geschossen, so daß also ein Zwölfpfünder sechsunddreißig Pfund, ein Vierundzwanzigpfünder zweiundsiebenzig Pfund und so fort wiegen würde. Die Valerie versendet deshalb eine Kugel von dreihundertvierzig Pfund Gewicht, während die auch schon ganz tüchtigen achtundvierziger Marinegeschütze eine ganz hübsche Kugel von hundertvierundvierzig Pfund ausschicken. Nur bei den Feldgeschützen erleidet diese Berechnung eine Veränderung, da z. B. eine Sechspfünderkugel oft das Sechsfache, also sechsunddreißig Pfund, wiegt.

Dank meiner Begleitung gelang es mir auch, in das kleine Souterrain zu gelangen, das eigentlich selbst den Officieren der Armee verschlossen war, wo wir die Geschosse zu diesem Ungethüm noch aufgespeichert und geladen sahen.

Es waren Kugeln in der Form eines Zuckerhuts, nur unten mehr abgerundet, als es die Granaten sind, und oben mit einer Schlinge versehen, die, ich weiß nicht wie, so stark befestigt ist, daß sie beim Emporheben nicht abreißen kann. Ueber der „Valerie“ ist dann an einem Gestell ein Flaschenzug angebracht, mit dem dieses Gewicht der Geschosse bewältigt werden kann; der Haken faßt in die Schlinge, wird dann emporgezogen und eingeschoben und ist zum Gebrauch fertig.

Alle die schweren Geschütze, die ich hier oben sah, waren Hinterlader, wie sie auch am Bord der Kriegsschiffe gebräuchlich sind, und es schien, als ob die Franzosen sämmtliche Verschlüsse derselben – d. h. die hintere Schraube, die den Lauf schließt – mitgenommen hätten; es war wenigstens keine derselben aufzufinden. Man glaubte, es sei deshalb geschehen, um die deutschen Truppen zu verhindern, Paris mit seinen eigenen Kanonen zu bedrohen und am Ende gar wieder zu beschießen. Später fanden sich aber – wie ich jetzt höre – diese Verschlüsse wieder und zwar versteckt vor, und wir haben jetzt Material genug da oben, um der übermüthigen Stadt, falls sie sich je bewogen fühlen sollte, ihr Haupt noch einmal zu erheben, den Standpunkt ohne Weiteres gründlich klar zu machen.

Die Valerie ist jedenfalls ein Monstregeschütz und hat uns manchen Schaden an Leuten zugefügt; das Größte aber, was sie in dem ganzen Kriege geleistet hat, war doch die gründliche Zerstörung des wunderbar schönen Schlosses St. Cloud, und ob sie dazu von den Franzosen[1] gegossen und dort hinaufgebracht war, bleibt immer die Frage. Ich mag auch hier noch erwähnen, daß die Franzosen während des Krieges eine Verbesserung ihrer Geschosse vorgenommen haben. Zu Anfang hatten sie an ihren Granaten lauter „Zeitzünder“, das heißt solche Zündröhren, die erst nach einer berechneten Zeit zündeten und das Geschoß zum Explodiren brachten. Das geschah nun oft zu früh, oft zu spät und oft gar nicht. Jetzt dagegen haben sie sich unseren Percussionszündern zugewandt, so daß die Granate in dem Moment „crepirt“, das heißt platzt, wo sie auf einen harten Gegenstand trifft.

Der Waffensaal, eigentlich ebenfalls jedem Besuche, selbst dem von Officieren, verschlossen, war nach Diesem das Wichtigste. Mein freundlicher Führer erklärte aber in der liebenswürdigsten Weise, daß er entschlossen sei, überall hinzugehen, und da ihm die Schildwachen nicht entgegentreten mochten, setzte er es auch durch.

Wir stiegen die Treppe hinauf und fanden uns gleich darauf, in dem Hauptgebäude, in einer Reihe von Riesensälen, in denen jedenfalls früher die Waffenniederlagen gewesen waren. Die Herren schienen aber so ziemlich Alles mitgenommen zu haben – die Räume waren fast alle vollständig leer und nur in dem einen Saal hingen etwa zwölfhundert Kürassierpallasche an besonders dazu angebrachten Regalen, plumpe Dinger freilich, die wir schwerlich werden verwenden können.

In einer hinteren Kammer fanden wir auch noch einen Haufen Gewehre, aber eine sehr traurige Sammlung, die über- und durcheinander lag: ein paar Chassepots, eine Anzahl Percussionsflinten und sogar noch ein Feuersteinschloßgewehr englischer Arbeit, das auch die Tower-Marke trug.

Das neutrale England scheint selbst sein Letztes und Schlechtestes hergegeben zu haben, um seine „französischen Freunde“ mit Waffen gegen uns zu versehen – aber seine französischen Freunde haben wahrscheinlich auch tüchtig dafür bezahlen müssen, oder doch wenigstens Bezahlung versprochen, und ich hoffe nur, daß sie in Assignaten ihre Schuld einlösen.

Aus der Waffenkammer nieder schritten wir wieder dem Rand der Festung zu, um vielleicht jetzt einen besseren Blick über die benachbarte Gegend zu gewinnen, als da unten ein bunter Zug von Reitern sichtbar wurde, und plötzlich lief der Ruf: „Der Kaiser! Der Kaiser!“ durch die Reihen der Soldaten.

Der Kaiser! – wie sonderbar uns das noch klingt, wie gar so fremd und ungewohnt, und wenn man den Namen manchmal nennt, muß man sich oft noch darauf besinnen, wer eigentlich damit gemeint sei Der Kaiser! – aber es ist das Wort, das uns fortan zusammenschweißen soll zu einer einzigen großen und mächtigen Nation; es ist das Wort, das uns bis jetzt schon geeinigt hat und dem wir zugestrebt haben, eine lange schwere Zeit hindurch. Jetzt jubelt ihm das Volk entgegen im Bewußtsein seines Sieges über den frechen, übermüthigen Nachbar, im Gefühl seiner Stärke und Unbezwingbarkeit – möge es ihm über Jahr und Tag auch wieder so zujubeln, daß er dem weiten herrlichen deutschen Reich auch die Freiheiten und Rechte gegeben habe, die sich das Volk mit seinem Blut und seiner Opferfreudigkeit rechtlich verdient hat, und der Tag soll dann für ewige Zeiten gesegnet sein, der ihm die Kaiserkrone auf das Haupt drückte.

„Der Kaiser kommt!“ wie das lebendig wurde auf der weiten Festung und wie das herüber und hinüber glitt, und das Wort von Mund zu Mund flog! Und da unten kamen sie heran. Zuerst die kaiserliche Escorte, ein bunter Zug aus einzelnen Leuten der verschiedensten Reiterregimenter, dann der Wagen mit Wilhelm dem Ersten, ein anderer Wagen, in dem in seinen Pelzmantel gehüllt General Moltke saß, und nachher die Escorte hinterher.

Der Zug wurde auch nicht am Thor aufgehalten: Wache heraus! Die Leute sprangen in’s Gewehr, und zum ersten Mal betrat der Kaiser den Berg, dessen Kanonen umsonst versucht hatten, ihre Geschosse bis in sein Hauptquartier hinein zu schleudern, und unter dessen Schutz zahlreiche blutige Ausfälle gewagt waren, um eben nur die Führer der deutschen Armeen in ihre Gewalt zu bekommen. – Er zog ein als Sieger und Paris lag zu seinen Füßen.

Es war das ein großer Moment, und soviel ich auch im Leben schon gesehen habe, ich werde ihn doch nie im Leben vergessen.

Der alte Herr sah aber – wie er so rüstig aus dem Wagen stieg – freundlich und heiter aus, und er hatte auch wahrlich Ursache dazu. Der furchtbare blutige Krieg lag hinter ihm – oder sollten dennoch die Franzosen wahnsinnig genug sein, ihn noch einmal zu beginnen? – Dann aber darf sich Frankreich auch darauf verlassen, daß es den Teufel heraufbeschworen hat und nicht mehr im Stande ist, ihn zu bannen. Die Geduld unserer Soldaten ist erschöpft – die Wuth unserer Landwehrleute jetzt schon im Kampf kaum zu zähmen – dann werden sie wenig mehr Gefangene nach Deutschland schicken, aber blutiger Leichen werden die Schlachtfelder decken und verwüstete Städte die Bahn bezeichnen, die unsere Truppen genommen. Der Krieg ist schon jetzt ein entsetzlich blutiger und erbitterter geworden, diese wilden ungeregelten Banden, die zahllose Scheußlichkeiten verübt, werden schon jetzt nicht mehr geschont; Frankreich mag sich hüten, uns zum Aeußersten zu treiben.

Aber das sind hoffentlich nutzlose Befürchtungen. Es ist allerdings Thatsache, daß erst jeder einzelne Franzose geprügelt werden muß, bis er glaubt, daß sein Nachbar Schläge bekommen hat – und selbst dann redet er sich ein, es wäre nur eine gymnastische Uebung gewesen, aber endlich einmal müssen die Leute doch klug werden.

Kaiser Wilhelm sah auch nicht so aus, als ob er sich Sorgen

  1. Vorlage: Franzpsen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_147.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)