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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 9.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Stasi antwortete nicht gleich. Sie hatte kaum gefühlt, daß sie wieder fest auf dem Boden stand, als sie von der Umarmung sich befreite und ein paar Schritte bei Seite trat, um zu sehen, wer ihr den unerwarteten Dienst geleistet hatte. Das Ergebnis schien ihr nicht zu behagen; denn ihr Gesicht verfinsterte sich augenblicklich wieder. Der Mund, der sich zuerst unwillkürlich zu einem freudigen und dankbaren Lächeln erschlossen hatte, nahm wieder den strengen, höhnischen und mürrischen Zug an, welcher trotz aller Lieblichkeit so gern um denselben heimisch war. Dieser Eindruck war wohl auch erklärlich; denn war auch Gestalt und Kopf des Burschen so hübsch und stattlich, daß er Stasi mit Fug und Recht als ein ebenbürtiges männliches Gegenstück zur Seite gestellt werden konnte, so war doch die Erscheinung im Uebrigen in hohem Grade unsauber und wüst, der Anzug verrissen und mit Schmutz bedeckt, so daß der Gedanke an einen Landstreicher und etwas noch Schlimmeres sich ebenso unwillkürlich aufdrängte, als er verzeihlich erschien. Ein verschossener, löcheriger Hut von der Gestalt eines Kegels stimmte vollkommen zu grobgenagelten Schuhen der plumpsten Art und zu der Lederhose, von deren Schwärze längst die letzte Spur abgetragen war. Der Körper selbst steckte in einer Art von Joppe mit Aermeln, aus dem allergröbsten Loden gefertigt, nur von Heften zusammengehalten und an Brust und Schultern durch einen ledernen Ueberschlag wie durch einen Kragen gedeckt, welcher von Pech und Harz glänzte, wie tropfende Tannenrinde. Der ganze Anzug verrieth einen Menschen, welcher lange und ständig fern von Seinesgleichen im Walde gelebt haben mußte, und die mächtige, langstielige Axt, welche der Mann nebst einem kleinen Werkkorbe über der Schulter hängen hatte, ließ vollständig den Holzknecht erkennen.

„So schau’n ja dieselbig’n aus, die vom Himmel ’runter kommen,“ sagte Stasi, indem sie sich geringschätzig abwandte. „Du mußt schon stark wo anders ang’streift sein – brauchst Dir nichts einzubilden – ich hätt’ mich selber auf den Füßen halten können; ich dank’ Dir nit für Deine Hilf’.“

Eilend schritt sie hinweg und wanderte bereits den Steig zu dem kleinen Pfarrkirchlein hinan, als der Bursche noch unbeweglich dastand und ihr nachsah, in der gehobenen Hand den Hut, den er zum Gruße abgenommen, auf den geöffneten Lippen die Erwiderung auf die unerwartete Anrede. „Sakra,“ sagte er dann, indem er den Hut aufsetzte und mit einem tüchtigen Schlage auf seinem braunen Kraushaar feststülpte, „das ist einmal ein bildsauber’s Madl – aber wenn sie den schiechen Humor nit hätt’, das könnt’ nit schaden.“

Während dessen hatten die Glocken der Dorfkirche ihre Klänge zu vollem Geläute vereinigt; festlich klang es durch das Thal entlang und trug zu den Berghäusern die Kunde empor, daß unten das Dankfest der Christenheit beginne, das Dankfest für die Befreiung aus der Winternacht, für die ewige Dauer verbürgende Auferstehung alles dessen, was groß ist, herrlich und schön. Die Kirche ist klein wie das Dörflein, welches außer dem stattlichen Wirthshause nur in ein paar kleinen Höfen besteht; aber die Stelle ist mit kluger Erwägung so gewählt, daß sie beinahe überallhin sichtbar ist und so recht eigentlich den Mittelpunkt der Gemeinde bildet, deren Glieder, wenn auch in etwa dreißig Höfen, Gütern und Häuschen im Umkreise von vielen Stunden zerstreut, dennoch durch gemeinsame Art, Tracht und Sitte so eng verbunden sind, daß sie von den Bewohnern aller anderen Bergthäler sich unterscheiden. Im Gefühle dieser Eigenheit haben sie sich Jahrhunderte lang einander abgegrenzt und abgeschlossen, sodaß seit Menschengedenken es kaum vorgekommen ist, daß ein Jachenauer Mädchen aus dem Thale hinausgeheirathet hätte; vollends niemals aber war es geschehen, daß ein Fremder oder Auswärtiger hereingekommen wäre und sich angesiedelt hätte auf Haus und Hof in der Jachenau. Jede Familie lebte für sich auf ihrem Gute von dem Ertrag ihrer Arbeit und zwar ganz behaglich; denn für die kleine Bevölkerung reichte die auf den schönen Thalweiden und Almen sehr ergiebige Viehzucht vollkommen aus, und die Nutzung der fast überall bis vor die Thür reichenden Waldungen, die damals nahezu noch Urwälder zu nennen waren, boten eine zweite, nicht spärlich fließende Quelle eines Wohlstandes, dessen Hauptreiz in der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit lag, die er gewährte – dessen Hauptstütze die freudige Genügsamkeit bildete, aus der er entsprang.

Die Kirche, ein altes, aber unscheinbares Bethaus, hatte weitaus nicht Raum genug für die Besucher, welche zumal an einem Tage wie heute von allen Höhen und Niederungen herbeiströmten; deshalb war drinnen in den Kirchstühlen jedem Hofbesitzer sein Platz angewiesen, und jeder hatte denselben auf der Betbank mit einem Schildchen bezeichnet, das den Namen seines Hofes oder Anwesens trägt. Daneben lag das Gebetbuch, damit es der Kirchgänger nicht erst mitzubringen brauchte; denn wenn auch Jahr aus Jahr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_141.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)