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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 8.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
1.

„Kreuz Birnbaum und Hollerstaud’n! Wie lang’ soll denn die G’schicht’ noch dauern? Drunten im Dorf werden’s schon bald das Z’sammenläuten anfangen, und da rührt sich alleweile noch nichts!“ So rief es aus der Stube im Erdgeschosse durch das stattliche Bauernhaus, das in der einsamen Jachenau an dem Abhange liegt, wo es „am Berg“ genannt wird und wo der vom Walchensee herkommende Wanderer, nachdem er die feuchten Waldniederungen und den Erlengrund durchschritten hat, zuerst das ganze grüne Gebirgsthal vor sich hingestreckt sieht wie einen großen, von riesigem Bergzaune umgebenen Rasenplatz. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen, hageren Manne, der den kahlen, nur noch mit einem Kranze weißen Kraushaares umgebenen Kopf durch die Thür in’s Hausfletz gesteckt hatte, das er zugleich mit scharf musternden Blicken überschaute. „Na,“ begann er wieder, „hört denn wirklich Niemand? Wenn’s heut’ nichts mehr wird, so freu’ ich mich auf morgen.“ Er hielt wieder einen Augenblick horchend inne; doch in dem Hause waltete tiefe festtägliche Ruhe, und nur ganz fern ließ sich der gedämpfte Ton von Stimmen vernehmen, aber ununterbrochen durch das Rufen und unbekümmert um den Rufenden. Kopfschüttelnd setzte der Horcher den Finger an den Mund, und ein greller, schallender Pfiff gellte so laut durch den Raum, daß nur ein Todter oder ein vollständig mit Taubheit Geschlagener ihn zu überhören vermochte. Darauf antwortete endlich aus der Entfernung ein Geräusch, als ob eine Thür geöffnet würde, und eine Weiberstimme rief: „Wer schreit denn so unsinnig? Was geit’s denn?“

„Langweilige Weibsbilder geit’s,“ rief der Bauer entgegen. „Ich will gern sehen, ob ich Euch vorspannen muß, damit Ihr mit Eurer Hoffahrt fertig werdet.“

„Wir kommen gleich,“ rief eine Weiberstimme entgegen, hell und wohlklingend, aber doch von etwas gereizter Schärfe im Tone. „Wer’s nit erwarten kann, der soll nur schön langsam vorangehen.“

Der Bauer schien eine zornige Erwiderung auf der Zunge zu haben, besann sich aber anders und brummte halblaut in den grauen Schnauzbart, der in zwei mächtigen Flügeln unter der Nase hing, die aus dem kräftigen Gesichte so stattlich hervortrat, als hätte die Natur versucht, die Felsenvorsprünge der Berge im Kleinen nachzuahmen. Von dem Gemurmel waren nur einige Worte zu verstehen, die sich anhörten wie: „Sakrisches Dirndl das, mit ihrem ewigen Aufbegehren! Sie macht’s doch allemal so!“ Dieses „Allemal“ mochte eben die Ursache sein, daß er das Weitere verschluckte und sich ruhig in das Unvermeidliche ergab; er mochte es so gewohnt sein, dem „Aufbegehren“ auszuweichen, denn trotz der Größe und Stattlichkeit der ganzen Gestalt, welche auf Kraft und Derbheit schließen ließ, war um den Mund ein starker Zug jener lässigen Gutmüthigkeit zu bemerken, der nichts lieber ist als Ruhe und Frieden. Die ärgerliche Aufwallung des Augenblicks war rasch vorüber, und der Bauer setzte sich auf die an der Mauer herumlaufende Bank an den Tisch, auf welchem ein großer Foliant aufgeschlagen war, eine Bibel mit mächtigen Lettern und derben Holzschnitten, welche die heiligen Geschichten in fast handgreiflicher Weise erläuterten. Er nahm die kleine blecherne Zwickbrille, welche zwischen den Blättern lag, setzte sie auf die Nase und begann zu lesen; aber es war ihm nicht möglich, in die rechte Stimmung zu kommen. Er legte die Brille wieder weg, und das unbewaffnete Auge blieb an den Bergen und an dem Landschaftsbilde hängen, das sich vor dem Fenster in der ersten Pracht und unentweihten Herrlichkeit des Frühlings ausbreitete; bald schob er das Buch völlig bei Seite, stand auf und öffnete das Fenster; ein lauer, weicher Luftstrom wogte wie grüßend herein und machte die Weinreben erzittern, die mit den ersten aufbrechenden Blattaugen an dem sonnigen Gemäuer emporrankten.

„Kreuz Birnbaum!“ sagte der Bauer in sich hinein. „Einen so schönen Ostertag hab’ ich nicht leicht gesehen und ein so zeitiges Frühjahr auch nicht. Die Luft ist ja hellicht wie Balsam, die Kirschbäume fangen schon zum Blühen an, auf den Büheln ist’s schon ganz awer und grün, und der Schnee auf den Bergen ist schon so krank, alswie sonst bald um Johanni.“ Er verstummte; das Auge war vollauf mit dem herrlichen Anblick beschäftigt und hatte auch guten Grund, dabei zu verweilen, denn das Bild war von entzückender Schönheit. Ueber den Berghang hinab hatten die frischen Grasspitzen schon ihren lichten, grünen Teppich gewoben, stellenweise unterbrochen durch Büschel gelber Schlüsselblumen oder weißer Schneeglöckchen, so eng und dicht, als hätten sie sich zusammengedrängt, um sich vor der Winterkälte zu schützen, die so lange auf ihnen gelastet. Weithin dehnte sich das Wiesenthal, frisch und saftvoll, und die Bäume dazwischen, wenn auch noch blattlos, waren von jenem unbeschreiblichen grünen Schein überflogen, der ein untrüglicher Bote des Frühlings ist. Selbst das Schwarz der Tannen war milder geworden von dem ersten Hervorbrechen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_121.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)