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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Anderer uns nichts hilft. Das Besondere und Individuelle unserer Lage übt seine überwältigende Macht auf uns – wir haben immer das Gefühl, als sei diese Lage etwas ganz Apartes und nie Dagewesenes, uns ist, als hätten wir ein ganz besonderes Recht, uns wider das Schicksal zu empören.

Es mochten Hunderttausende wie ich um ihrer Pflicht willen ihrer Neigung haben entsagen müssen – es hatte doch noch Keiner deshalb auf ein Mädchen wie Blanche zu entsagen brauchen! Wie Blanche! O mein Gott, wie klammerten sich alle Fibern meines Herzens an dieses Mädchen – und doch sollte ich mein Herz losreißen von ihr; wie glaubte ich nicht mehr leben zu können ohne sie, und sollte doch von ihr gehen auf Nimmerwiedersehn! Wie war ich mir selbst ein Räthsel mit dem kecken Leichtsinn, dem heitern Uebermuth, der selbstgefälligen Scherzhaftigkeit, womit ich mich ihr genähert und die ich früher in den Verkehr mit ihr gelegt; ach, ich hatte mich so überlegen gefühlt, ich war endlich so übermüthig geworden, bei meiner Wahrnehmung eines Spieles, das sie mit mir treiben wollte … so kindisch übermüthig! Und jetzt hätte ich vor ihr hinknieen, sie anbeten mögen, dies hochherzige Mädchen mit ihrem edlen aufopferungsfähigen Herzen, ihrem starken und unerschrockenen Charakter.

Und ich hatte nicht einmal diesen Trost, ihr sagen zu können, wie ich sie bewunderte. War es ein Trost, daß ich mir sagen konnte, auch sie müsse wenigstens mich achten, sie könne mich hassen wegen dessen, was ich gethan, aber nicht verachten, sie müsse einsehen, daß ich stark und unerschütterlich meine Pflicht gethan? Nein, ich hatte nicht einmal diesen Trost, wenn es einer gewesen wäre. Unsere gegenseitige Situation war so unglückselig, daß ich ihn gar nicht haben konnte. Denn was Blanche sich jetzt sagte, was war es anders, als daß mein Handeln nur beweise, wie wenig ich die Wahrheit gesprochen, als ich ihr von meiner Leidenschaft für sie geredet? Was sie von den Männern hielt, hatte sie ja oft genug gesagt; wenn sie so urtheilte, konnte sie nicht anders glauben, als daß ich sie von Anfang an nur täuschen wollen, um ihr Vertrauen zu erschleichen, ihr Geheimniß ihr zu entlocken, daß es mir nur um dies verfluchte Gold zu thun gewesen. …

Er war zum Rasendwerden – gerade dieser Gedanke war mir entsetzlich. Ich konnte ihn nicht ertragen, ich mußte etwas thun, um ihn Blanche zu nehmen. Ich wälzte einen Plan nach dem andern in meinem Kopfe, um dahin zu gelangen; ehe ich mich für etwas entschlossen, wurde ich gestört: der Abbé kam mit einem freundlichen kleinen Herrn, den er als den Hausarzt vorstellte. Ich mußte mich ihm zur Untersuchung und zum neuen Verbinden meiner Wunde überlassen; auch er fand sie nicht bedenklich, aber er befahl mir, mich zur Ruhe zu begeben; er bestand darauf, daß ich wenigstens zwei Tage den Arm so wenig wie irgend möglich bewege. Mir war diese Vorschrift ganz willkommen; ich konnte mich darauf berufen, wenn ich auf die Anzeige des Officiers hin vielleicht doch schon früher von meinem Posten hier in Chateau Giron abberufen werden sollte, und war sehr entschlossen es zu thun, falls mein Commandeur sich anderer Meinung zeigen würde als der Premierlieutenant, der mir für’s Erste zu bleiben erlaubt hatte.

Nach dem Arzte kam Friedrich, nach ihm Glauroth mit dienstlichen Meldungen; dieser ließ sich dann nicht nehmen, mir die Unterhaltung zu machen – ich ward ihn auch, als ich mich zu Bette gelegt, nicht los … er hatte den Faublas ausgelesen und seine Cigarre rauchend erging er sich in Bemerkungen und in allerlei Kreuz- und Querraisonniren darüber. „Ich werde mich mehr auf die französische Literatur verlegen,“ sagte er; „es wachsen, scheint es, ungeheuer schmackhafte Früchte in diesem Garten … ein wenig faul, aber desto schmackhafter, wie die Mispeln. Wie diese Kriegsfahrt in Frankreich hinein überhaupt bildend auf den Menschen wirkt, ist ganz merkwürdig!“

„Ich hoffe,“ versetzte ich, „Sie bilden Ihren Geschmack nicht hier zu einer Liebhaberei für Mispelngenuß aus!“

„Wer weiß,“ sagte Glauroth; „die deutschen Eicheln mögen viel nahrhafter und gesünder sein, aber Sie müssen einräumen, daß man sie unverdaulich finden kann!“

„Sagen Sie, Glauroth,“ unterbrach ich ihn, „um von etwas Anderem zu reden. Ihr Vater ist Kaufmann, nicht wahr?“

„So ist es, er ist Kaufmann und arbeitet hauptsächlich für die Pflege des deutschen Gemüths mit wollenen Nachtmützen, Unterjacken, Kamisölern, er ‚macht‘ in Allem, was der Mensch sich dicht und warm an’s Herz legt … weshalb fragen Sie? wollen Sie die Firma Glauroth in Nahrung setzen? – etwa die Schwadron als großmächtiger Gönner mit den für den kommenden Winter willkommenen wollengewebten Wohlthaten beschenken?

„Nein nicht deshalb, sondern weil ich voraussetzte, daß Ihnen alsdann vielleicht der Name irgend eines großen und soliden Bankgeschäfts in der Schweiz, in Basel oder Bern bekannt sei!“

„In Basel oder Bern?“ sagte Glauroth nachdenklich. „Warten Sie … wer ist ist Basel? – ach, dort ist ja das alte Haus Gebrüder M. … und in Bern …“

„Genug,“ rief ich aus, „Gebrüder M. – der Name ist bekannt und genügt mir vollkommen!“

„Wollen Sie Geldgeschäfte machen?

Ich antwortete nicht, sondern sprach von anderen Dingen und sandte Glauroth endlich unter dem Vorgeben fort, daß ich nun ruhen wolle.

Ich ruhte auch: ich schlief gesund und lange in dieser Nacht, wie ein körperlich und seelisch ermüdeter Mensch schläft, wenn ein fester und starker Entschluß seiner Seele wenigstens Ruhe gegeben hat. Ich erwachte am andern Morgen erfrischt und gekräftigt. Ich konnte mich erheben und, nachdem Friedrich für meine Wunde gesorgt und den Arm hübsch in eine Schlinge gelegt, ausgehen, um nach meinen zwölf Paladinen aus dem arianischen Ulanenstamm und ihren Rossen zu schauen. Nachdem ich mit Glauroth den Dienst für den Tag besprochen, kehrte ich in mein Zimmer zurück und schrieb zwei Briefe. Den ersten an Fräulein Kühn. Daß er erst nach drei, vier wieder zerrissenen Entwürfen zu Stande kam, brauche ich nicht zu erwähnen. In den Brief schloß ich ein Document ein, welches mir weniger Mühe machte zu stilisiren, denn es war sehr kurz gefaßt.

Nachdem ich den Brief versiegelt, rief ich Friedrich herbei und sandte ihn ab, meine Depesche Fräulein Kühn selber zu überreichen. Das Herz klopfte mir, während er seinen Auftrag ausrichtete; ich fragte mich ängstlich, ob sie einen Brief von mir annehmen würde. … Friedrich kam zurück, mein erster Blick nach seinen Händen zeigte mir, daß sie leer waren, daß Blanche mein Schreiben angenommen.

Ich schrieb den zweiten längeren Brief an meinen Geschäftsmann und Verwalter daheim. Ich wollte den Arzt, der heute noch einmal zu kommen versprochen, bitten, ihn mitzunehmen und in Noroy der Post zu übergeben.

Ich war eben damit zu Stande gekommen, als der Abbé eintrat und mir mittheilte, daß Fräulein Blanche mich zu sprechen wünsche; daß, wenn ich noch zu schwach sei, zu ihr heraufzusteigen, sie sich gern herunterbegeben wolle, um zu mir zu kommen.

„Sie sehen mich gekräftigt und halbgenesen,“ unterbrach ich ihn, „darf ich mich sogleich zu Fräulein Blanche hinaufbegeben?“

Der Abbé machte mir eine Verbeugung – er war in all’ seinem Wesen und seiner Haltung förmlicher und gemessener als die Tage zuvor – und schritt vorauf. Ich folgte ihm in einer nicht leicht zu beschreibenden Gemüthsverfassung.

Oben führte er mich durch den mir bekannten Salon in das Cabinet, in welchem ich bei meinem ersten Besuche Madame Kühn hinter den herabgelassenen Portièren vermuthet hatte. Es war ein sehr hübsches Boudoir, in welches ich eintrat und mir gegenüber Blanche am Fenster sitzen sah, bleich, mit Augen, die Spuren des Weinens trugen. Doch waren die Thränen in diesem Augenblick verwischt, sie sah mich mit einem sehr trockenen und harten Blick an, als ich vor ihr stand und ihre Anrede erwartete. Meine Schreiberei lag vor ihr auf einem kleinen Arbeitstisch.

Ich hätte ihr mit einem Gefühl tiefer Rührung, das mich bei ihrem Anblick überkam, die Hand entgegenstrecken mögen; ihr Blick scheuchte dies Gefühl zurück und ich nahm den Sessel ein, auf den sie deutete.

Der Abbé war zurückgeblieben.

„Ich habe Sie zu sprechen gewünscht,“ sagte sie mit jener Verschleiertheit, die sich über ihr so glockenhelles und sonores Organ zuweilen legen konnte, „weil ich eine Frage an Sie richten muß. … Versprechen Sie mir vorher, die volle Wahrheit zu sagen!“

„Ich verspreche es Ihnen,“ versetzte ich sehr beklommen. „Welche Frage ist es?“

„Eine sehr indiscrete und doch auch sehr natürliche! Sind Sie sehr reich?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_107.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)