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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


gebracht. Sie füllen eine kleine Galerie und darunter befindet sich auch ein Bild Ary Scheffer’s, des Lehrers der Prinzessin, welches dieselbe in ihrem Atelier darstellt, ein kleines Meisterstück. Vielleicht, daß diese Erinnerungen an die Jugend bei der Betrachtung dieses Kunstwerkes mitsprechen; doch hat es auch Anderen und Größeren denselben Genuß gewährt.

Das Stadthaus von Orleans ist ein in vieler Hinsicht merkwürdiges Gebäude – ein Gedächtniß an die Zeit, wo die Lehre Luther’s und die Richtung Calvin’s in Frankreich mächtige Wurzeln geschlagen hatten und fast ein Sechstheil der Stadt sich zu der neuen oder vielmehr der gereinigten Lehre bekannte. Der Voigt der Mutter Heinrich’s des Vierten, Jacques Grostot, das Haupt der neuen Secte, hat es gebaut; nüchtern, ernst und streng wie die Doctrin Calvin’s wurde auch das Haus, das er zum Sammelplatze seiner Partei machte. Neuester Zeit wollte man dem finstern Hause ein neues Gewand anziehen: man hat dem Dache elegante Galerien von Eisen im Style der Renaissance angefügt; man hat einen graciösen Glockenturm darauf gesetzt, Nischen ausgehauen und Statuen in dieselben gesetzt zum Andenken an Personen, die sich um Orleans verdient gemacht haben; man hat vor dem Hauptgebäude eine gebrochene Freitreppe mit reicher Ornamentirung angebracht; aber es sind dieselben steifen Giebel, dieselben rothen Backsteinmauern, die ursprünglichen nüchternen Linien geblieben, und in jedem Fenster glaubt man trotz des neuen coquetten Anputzes den alten finsteren Hugenottenchef zu erblicken. Auch die inneren Gemächer sind im Style der Renaissance prächtig mit großartigem Geschmacke decorirt. Ich zweifle, daß irgend eine Stadtgemeinde einen Sitzungssaal habe, der eleganter und imposanter wäre als der im Stadthause von Orleans. Styl und Geschmack kommen sich gegenseitig zu Hülfe.

In der Mairie war der Municipalrath während der letzten Tage der zweiten Occupation in ununterbrochener Thätigkeit. Die Orleanaiser haben sich nämlich eine Zeitrechnung nach einer ersten und zweiten Occupation zurecht gemacht. Die erstere geschah durch die Baiern; von dem was zwischen beiden liegt, nämlich vom Zwischenreich der französischen Loirearmee, sprechen sie nicht; die Freude war auch hier zu kurz. In den Räumen der Mairie drängten sich die Quartiermacher für das Obercommando, für die Generalcommandos der einzelnen Armeecorps, für die einzelnen Truppentheile. Für den Generalfeldmarschall waren die Prachträume der früheren kaiserlichen Präfectur eingeräumt worden; General von Alvensleben, der Commandeur des dritten Corps, wurde zum Bischof Dupanloup in’s Quartier gelegt.

„Monsieur – logement – compagnie!“ das war die stehende Redensart jedes neu eintretenden Quartiermachers, und um die Zahl zu markiren, streckt er die Finger aus, was deutlicher als das beste Französisch sein soll.

„Aber wir haben ja schon die ganze Armee im Quartier,“ replicirt ein Municipalrath, dem der Angstschweiß auf der Stirn steht, in französischer Sprache.

„Das hört ja gar nicht auf!“ wendet sich ein junger Mann in deutscher Zunge redend zu dem Quartiermacher.

„Ach so! Sie parliren Deutsch, Camerad?“

„Ja, ich bin der von der Mairie bestellte Dolmetscher.“

„Ja, da haben Sie Recht, dat hört bei uns nich uf!“

„Wieviel kommen denn noch Regimenter?“

„Wieviel? Bis in die Puppen!“

„Combien?“ fragt der Municipalrath dazwischen.

„Wat sagt der Herr Stadtrath mit’s weiße Halstuch?“

„Wieviel noch kommen? fragt er.“

„Na, ick habe es Ihnen doch schonst jesagt, bis in die Puppen.“

„Was heißt das?“

„Wat? Dat wissen Sie nich und wollen Tollpatsch sind? Sie wissen nich, wat ‚in die Puppen‘ uf Französch heißt? Dat heißt: immer mang die Franzosen. Nu vertollpatschen Sie’s mal!“

„Toujours – toujours!“

Die Quartiermacher sind die Schrecken der Stadtbeamten, die mit der dornenvollen Aufgabe betraut sind, Quartier zu machen, Quartier für fast zehntausend Mann.

„Es geht nicht mehr, es ist nicht mehr möglich!“ stöhnte am Abend des 5. December der betreffende Beamte, in seinen Fauteuil müde zurücksinkend. „Wir haben kein Quartier, wir haben gar nichts mehr – nichts, nichts.“

„Für zwei Batterien bitte ich,“ erwiderte der Unterofficier, der vor ihm stand und dem er diesen Bescheid gegeben hatte.

„Batterie“ – wiederholte der Beamte wie elektrisirt von seinem Sitze aufschnellend. „Vous – vous êtes Batterie?“

„Artillerie,“ versetzte der Unterofficier.

„Hier – hier haben Sie Ihr Billet! Nehmen – nehmen Sie, Monsieur!“

Zur Erklärung muß hier beigefügt werden, daß die Einwohner von Orleans in den ersten Tagen der zweiten Occupation in beständiger Angst lebten, die Stadt möchte bombardirt werden. Sie hatten kein gutes Gewissen von der ersten Occupation her; Deutsche waren von ihnen ohne alle Veranlassung zu Gefangenen gemacht worden, und dann war es ausgemacht, daß sie mit der Regierung von Tours in Verbindung standen und dieser über die Armeeabtheilung des Generals von der Tann Nachrichten zukommen ließen.

Der große Vorhof vor der Mairie wurde des Tages über nicht mehr leer. Soldaten aller Waffengattungen, aller deutschen Stämme, Franzosen in Civil, Männer in blauen Blousen, Frauen, Kinder, Alles drängte sich bunt und wirr durcheinander; jeder von ihnen hatte eine Frage, ein Anliegen, eine Klage, eine Remonstration an die Mairie, die Menschen hatten sich in dichten Massen die Freitreppe hinauf bis an den Eingang gedrängt, so daß die Behörde sich genöthigt sah, Queue machen zu lassen. Die Herren in Civil trugen im Gesicht Knebelbärte und im Knopfloch ein rothes Band, sie standen in Gruppen beieinander, gedämpft, wenn auch mit lebhaften Gesten sprechend, lauter waren schon die Blaukittel, die zur Bekräftigung ihrer Worte noch mit den Holzschuhen klapperten, die Frauen weinten und nur ab und zu hörte man die Worte „Brod! Brod!“ heraus, dazwischen riefen die Kinder Cognac, Aepfel, Wurst und Käse aus. Ein Gemeinsames ließ sich für diese französische Gruppe als Behauptung aufstellen: Alle beklagten sich, daß sie zu viel Einquartierung hätten, Keiner, daß man ihm zu wenig Soldaten gegeben habe.

Eine Frau zeigte mir einen kleinen schmutzigen Wisch Papier; den habe ihr ein „Bavarois“ gegeben, der sich mit seinen Cameraden Wein aus den Kellern geholt habe. Ob das Papier Gültigkeit habe? Auf dem Papiere stand Folgendes: „Unterzeichneter bezeugt, aus dem Keller dieser Madame ein Faß Wein geholt zu haben. Der Bismarck bezahlt Alles. (Unterschrift.)“

In der Nähe der Mairie liegt die Kathedrale – ein imposanter gothischer Bau voll Würde und Majestät. Derselbe ist erst in neuerer Zeit vollendet worden, nachdem er unter Heinrich dem Vierten begonnen worden war. Die Erbauung dieser Kirche war der Preis, um den vom Papste der große Bann von ihm genommen wurde; bekanntlich hatte sich der König von Navarra zur neuen Lehre bekannt und diese dann erst wieder verlassen, als er den französischen Thron bestieg. Heinrich der Vierte war eine leichtblütige Natur und nahm die Sache mit seiner Rückkehr in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche nicht sehr genau. „Paris ist wohl eine Messe werth,“ war sein Wort, und die Franzosen, denen es in allen Dingen mehr um ein Schlagwort, als um ernste Untersuchung zu thun war, freuten sich über diesen Witz und ließen sich von ihm regieren. Den Orleanaisern trug seine Rückkehr in die Messe eine imposante Domkirche ein, wenngleich Heinrich der Vierte das großartige Bauwerk nicht vollendet hat. Von dem Gründer der Dynastie der Bourbons an bauten alle bis zum letzten Bourbon an der Domkirche „zum heiligen Kreuz“, unter Ludwig dem Sechszehnten wurden die Thürme beendet, unter Karl dem Zehnten das große Portal, und merkwürdigerweise – vierzehn Monate darauf war es in Frankreich auch mit der Dynastie zu Ende.

Die Länge der Kirche beträgt hundertdreiundvierzig Meter, die Breite sechsundsechszig Meter, die Höhe des Schiffes bis zu dem Gewölbe dreiunddreißig Meter, die Höhe der Thürme sechsundachtzig Meter. Wenn sich überhaupt eine Annäherungssumme für die Kosten der Erbauung annehmen läßt, da nach den verschiedenen Perioden des Baues der Werth des Geldes ein anderer war, so möchte die Summe von zweiundzwanzig Millionen Franken nicht zu hoch gegriffen sein – die Thürme allein erforderten einen Kostenaufwand von sieben Millionen.

Diese majestätisch in den Himmel aufsteigenden Thürme mit ihrer steinernen durchbrochenen Arbeit, ihren durchsichtigen Treppen und luftigen Säulenstellungen, diese tausend und aber tausend in Stein gehauenen Blumen und Blätter, diese eleganten Strebepfeiler,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_047.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)