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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Neunter Brief. In der Stadt der Jungfrau.


Der Platz du Martroi ist eine der wenigen Herrlichkeiten, welche die in baulicher Hinsicht gerade nicht sehr hervorragende Stadt Orleans aufzuweisen vermag. Derselbe bildet ein Oval, das von stattlichen Gebäuden umgeben ist. Unter ihnen nimmt die ehemalige Chancellerie des Hauses Orleans den ersten Platz ein; hier war der Sitz der Administration der Familiengüter, hier war ihr Archiv niedergelegt. Der Mittelpunkt, der Glanz und die Zierde des Platzes ist jedoch die kolossale Reiterstatue der Jungfrau von Orleans; die Stadtgemeinde hat dieselbe auf ihre eigenen Kosten errichten lassen, am 8. Mai 1858 war sie enthüllt worden. Die Jungfrau, deren Glieder in rauhes Eisen gekleidet sind, ist in dem Augenblicke dargestellt, wo sie dem Herrn der Heerschaaren den Dank dafür darbringt, daß er sie so Großes hat vollenden lassen. Ihr Haupt ist himmelwärts erhoben, mit der rechten Hand senkt sie das Schwert vor dem, der es in ihre Hand gegeben hat. Die Statue imponirt weniger durch die Kunst ihres Schöpfers, als durch die dargestellte Persönlichkeit und durch ihre Erzmassen; die Figur mit dem Pferde ist etwa vierundeinenhalben Meter, also fast sieben rheinische Ellen hoch und demnach von gleicher Höhe wie das Piedestal aus Granit, auf dem sie sich erhebt. Ein weites eisernes Gitter umgiebt dieselbe. Sie ist das Wahrzeichen, das Palladium der Stadt und in den angstvollen Tagen des dritten und vierten Decembers, als draußen von dem Wald von Orleans herein die Kanonen mit ihrem dumpfen Gebrüll fast den Erdboden erschütterten, als das Dröhnen derselben der Stadt immer näher kam und einen unheilvollen Ausgang anzukündigen schien, da war dieses Gitter von knieenden, betenden, weinenden Frauen umgeben, die ihre Thränen, ihre Seufzer, ihre Gebete und Gelöbnisse zur Heiligen der Stadt emporschickten und Kränze zu ihren Füßen niederlegten, auf denen ihres Herzens Angst und Gebet in den Worten zu lesen war: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“ Es folgte dem vierten December für die Einwohner von Orleans eine gar angstvolle Nacht. Bis in den späten Abend hatte der Kampf gedauert. Welches war der Ausgang? wird die Armee des französischen Volkes die Hoffnungen, die man auf sie setzte, erfüllen, wird sie die „Prussiens“ zwingen, einen ebenso plötzlichen Abzug zu nehmen, wie an diesen Ufern vor mehr als einem Jahrtausend Attila und vor Jahrhunderten die Engländer gethan? Keine Nachricht – wie manches bangklopfende Herz mag da in die Nacht hinausgehorcht haben – um ein Zeichen, um eine Hoffnung, eine Beruhigung, und dann bekümmert und sorgenvoll das Lager gesucht haben mit dem wiederholten Gebete: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“

Am Morgen des nächsten Tages, den fünften December, ging es wie Reveille durch die Stadt – die Trommeln wirbelten, die Pfeifen schwirrten und die Colonnen marschirten. Aber die langen anhaltenden Wirbel kamen nicht von französischen Trommeln; die Töne derselben sind kürzer, schneller, das war auch keine französische Marschmusik – und so marschiren auch die heimischen Rothhosen nicht – das ist ein wuchtiger, trotziger, markiger Schritt. Ja, es sind wirklich die Prussiens! Auf dem Platze der Jungfrau erglänzen im Scheine der Wintersonne die Helme und Bajonnete, in dichten Massen stehen sie da gesammelt und die eherne Jungfrau steigt nicht vom Pferde und hebt nicht ihr Zauberschwert, um die verhaßten Feinde zu vertreiben. Sie läßt den Frevel ihrer Anwesenheit geschehen. Die Prussiens ziehen nach den verschiedenen Straßen ab, die von dem Platze ausstrahlen, sie suchen sich Quartier und ihnen nach rücken andere, neue, größere Massen – Pferdegetrappel läßt sich hören – dort wird Cavallerie sichtbar – o, die furchtbaren Ulanen! und so viele! Gott sei Dank, nun sind sie alle – nun kommen keine mehr. Neuer Trommelschlag – neue Marschmusik! das sind bekannte Töne, die in den Straßen von Orleans schon gehört worden waren – wenn es auch nicht französische Militärmusik war, richtig, es sind die Baiern! Man hatte über ihren Abzug Anfangs November so sehr gejubelt – nun sind sie doch wieder da. Werden sie Vergeltung üben? Auch die Baiern nehmen auf der Place Martroi Aufstellung, dicht unter den Augen der heiligen Jungfrau. Nicht genug – es kommt wieder ein neues Regiment, aber nicht mit Raupen auf den Helmen, wie die Baiern, sondern Spitzen, wie die Preußen, wenn auch nicht mit dem Adler vorn, sondern mit dem springenden Löwen. Diese bleiben nicht auf dem Platze, sie ziehen die Rue Royale hinab – doch nicht über die Loirebrücke? Kein Feind vom Norden hat diese je überschritten. Und doch – doch! Sie überschreiten die Loire. Wird die Brücke nicht in die Luft fliegen? Ein Pfeiler war von den Franzosen schon angebohrt. Nein, sie marschiren ganz wacker hinüber – und kein Widerstand hält sie auf.

Der französische Stolz, daß kein Feind vom Norden oder Osten je über die Loire gedrungen sei, ist gebrochen durch ein hessisches Bataillon, von der Avantgarde des neunten Armeecorps, von den braven, tapferen Mansteinern. Die Deutschen haben den Uebergang gemacht, und das war am 5. December 1870.

Den Erinnerungen an die Jungfrau von Orleans oder die „Pucelle“, wie sie von den Franzosen bezeichnet wird, begegnet man in der Stadt allerwärts, aber merkwürdiger Weise ist Gestalt und Gegenständliches von ihr nicht mehr vorhanden, kein Waffenstück, keine Reliquie kann man von ihr aufzeigen, und so existirt auch kein Bild von ihr, das heißt, kein gleichzeitiges; man zeigt deren wohl, alte Steinbilder, Reliefs, die eine Figur zu Pferde darstellen, aber diese können ebenso gut den heiligen Georg oder den unheiligen Karl den Siebenten von Frankreich darstellen, Beglaubigtes ist nicht mehr vorhanden. Das älteste Bild, welches durch die Unterschrift besagt, daß es die Pucelle d’Orleans darstellen soll, ist aus dem neunzehnten Jahrhundert. Johanne ist auf demselben als ein sehr corpulentes Mädchen abgebildet, hat einen Federhut auf dem Kopfe, in der rechten Hand einen Floretdegen und in der linken ein feingesticktes Schnupftuch.

So ungefähr mögen unsere Ureltermütter sie auf einem Maskenballe vorgestellt haben, aber daß sie dadurch dem Ideale entspräche, das Schiller’s Genius für ewige Zeiten geschaffen hat, das möchte ich nicht behaupten. Fast scheint es, als könnte nur der visionäre Geist des Dichters ein Wesen, wie das ihrige, in Fleisch und Blut wieder neu schaffen, nicht der Pinsel, nicht die Hand des Bildhauers. Vielleicht aber vermochte es doch auch die künstlerische Hand eines Mädchens, dessen Wiege in einem Königsschlosse stand und in dessen Herzen selbst ein Funke der Flamme glühte, welche die Seele des Hirtenmädchens von Domremy erfüllte. Prinzessin und Hirtenmädchen! Welcher Contrast des äußeren Lebens, an Rang, Gewöhnung, Sitte und Zeit, und doch wie nahe haben sich diese Gegensätze berührt, wie innig sich vereinigt in einer Statue vor der Mairie in Orleans – da steht sie, die Jeanne d’Arc, das eigene Abbild derjenigen, die sie schuf, Marie von Orleans, dieser erhabenen Künstlerseele, die nebenbei eine Königstochter war.

Was in der Jungfrau wohnt, Heiliges und Großes, Tiefes und Begeistertes, Gedanken- und Ahnungsvolles, was von Glück und Schmerz, von Zeitlichem und Ewigem in einem Bilde liegen kann, das liegt in dieser Gestalt ausgedrückt. Die Jungfrau ist in stehender Figur; ihren Oberkörper bedeckt eine Rüstung; die Arme und über der Brust gekreuzt und halten das von Gott verliehene Schwert fest an das Herz gedrückt; das Haupt ist in Gedanken geneigt, und auf den Zügen des Antlitzes liegt eine unendliche Traurigkeit und Resignation, vermischt mit einem Strahle des Lichtes aus der Glorie der Märtyrer und Heiligen. Das ist keine Heroine wie die Figur der Reiterstatue auf dem Platze Martroi; das ist das einfache Mädchen, das Kind des Volkes, der keusche Busen einer Jungfrau, eingeschlossen in das enge ungewohnte eiserne Kleid. Ich verweile gern bei diesem edlen Werke; es überkommt mich dabei im fremden Lande ein Hauch der Erinnerung aus der deutschen Heimath; in früheren Tagen hatte ich oft mit derselben Bewunderung, mit derselben künstlerischen Erfüllung wie jetzt, vor jener kleinen Gypsstatue gestanden, nach welcher die Prinzessin die Marmorstatue in der Galerie von Versailles gearbeitet hat; nach der letzteren aber ist erst diese hier in Erz gebildet und nach dem Tode der Künstlerin vom Könige Ludwig Philipp der Stadt Orleans geschenkt worden. Der erwähnte erste Entwurf in Gyps befindet sich in Schloß Fantaisie bei Baireuth, dem Eigenthume des Herzogs Alexander von Württemberg, des Gemahles der 1838 verstorbenen Prinzessin. Dorthin wurden nach ihrem Tode alle Kunstgegenstände

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_046.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)