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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

einzuschließen. Unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit erhielten wir endlich mündlich (nie erfuhren wir auf welchem Wege) die niederschlagende Nachricht: Er ist erschossen worden. Ein Kaufmann aus Wien, den wir dringend um Auskunft über unseren Sohn baten, entschuldigte sich mit Krankheit, er könne selbst nicht schreiben. In einigen Zeilen von der Hand seiner Frau hieß es: das traurige Loos des Erschießens habe allerdings einen jungen Mann aus Erfurt getroffen, doch sein Name sei unbekannt. Ich wandte mich an den Gesandten v. Bourgoing in Dresden, mit inständiger Bitte um ein Attest über den Tod meines Sohnes. Der Gesandte versprach es mir, hat aber nicht Wort gehalten. Ich richtete ein Gesuch an den damaligen sächsischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Nach langem Warten erhielt ich den Bescheid: es sei am rathsamsten für beide Theile, die Sache ganz ruhen zu lassen, da man nicht gerne davon spräche. So groß war damals die Furcht, und nicht ohne Grund, vor Napoleon dem Ersten und seiner Rache!

Wir wurden in dieser Periode von Bekannten und Freunden geflohen, als sei unsere Wohnung ein Pesthaus. Unsere Lage war so schlimm, daß wir nicht einmal unserem Schmerz uns hingeben konnten, sondern nur auf unsere eigene Sicherheit bedacht sein mußten. Meine Frau hielt immer das Nöthigste gepackt, für den Fall, daß unvermuthet ein neues Gewitter über unseren Häuptern zusammenschlagen solle. Ja, Arzt und Beichtvater stellten uns Zeugnisse aus, daß in unserer Familie bisweilen Anfälle von Geisteszerrüttung und Tollheit vorkämen. Wir wagten nicht um den Sohn zu trauern; dem Bruder wurde es auf das Bestimmteste untersagt; und dies nicht von Franzosen – es waren die damals so ängstlichen, furchtsamen Deutschen!

(Schluß folgt.)




Von der Wiege des preußischen Liberalismus.

Erinnerungen von Rudolf Gottschall.
I.

Von den sonnigen Rheinlanden hatte mich das Schicksal nach Ostpreußen verschlagen, wo mein Vater in der Nähe von Rastenburg sich ein Gütchen gekauft hatte.

Welch ein Gegensatz gegen das glänzende Panorama von Mainz, mit dem breiten, prächtigen Rheinstrome, über den die Dampfer zogen, an der langen Reihe der Schiffsmühlen vorbeilavirend, mit den duftigen Bergen des Taunus und der lockenden Perspective des Rheingaus – dies bescheidene stille Landstädtchen, zwischen seinen einfachen Getreidehügeln, ohne den krystallenen Reiz von Strom oder Fluß, mit keiner andern Perspective, als derjenigen, welche die schläfrige Pappelchaussee nach Bartenstein gewährt!

Bekanntlich sind es die besten Frauen, von denen man am wenigsten spricht – und so sind wohl auch die Städte am glücklichsten, die auf keinen Weltruhm Anspruch machen. Unberühmter als Rastenburg kann beim besten Willen kein Städtchen sein. Nicht einmal eine heilige Linde und einen großen Jahrmarkt hat es aufzuweisen, wie das benachbarte kleinere Rössel, das im südlichen katholischen Ermeland gelegen ist; keine weltgeschichtliche Schlacht ist hier geschlagen worden, wie bei den kleinen ostpreußischen Städten Preußisch-Eylau und Friedland, auf deren Feldern der Geist des Schlachtenkaisers seine nächtige Heerschau hält und wo man im Schneesturm noch die Gespenster der Russen und Franzosen in den flockigen Wirbeln kreisen sieht; nicht einmal ein ganz kleines Vorposten- oder Arrièregardengefecht knüpft sich an den Namen Rastenburg! Eine Stadt, die keine Bluttaufe erhalten hat, ist für die Unsterblichkeit verloren. Vielleicht würden die alten Ordensritter, die hier eine Burg zur Unterwerfung der Preußen und zum Schutz gegen die feindlichen Polen begründet hatten, bessere Auskunft geben und von diesem Fleckchen Erde die Schmach abwenden können, daß hier gar kein rühmliches Blut in der männermordenden Feldschlacht vergossen worden ist. Doch die alten Ordensritter schlafen mit ihren Chroniken – und wer blättert nach Scharmützeln und Gefechten in einer Zeit, in welcher man über Schlachten mit einigen Tausend Todten gleichgültig hinweggeht?!

Auch keine Fabrikschornsteine ragen über das hügelansteigende Städtchen hervor; Ostpreußen ist keine industrielle Provinz; es hat keine Fabrikbevölkerung und wird niemals einen Bebel oder Mende in den Reichstag wählen. Nichts als Felder um Rastenburg – man baut Weizen, wo es geht, Roggen, Gerste, Hafer, Kartoffeln, durchaus aber keine merkwürdigen Futterkräuter oder sonstige Producte landwirthschaftlicher Versuchsstationen; alles Ueberraschende wird grundsätzlich vermieden. Wohl aber sieht es auf den Wochenmärkten schon ganz „masurisch“ aus. „Masuren“ ist für Ostpreußen, was die sogenannte „Wasserpolakei“ für Schlesien ist – ein Land mit etwas verdünntem Polenthum, dessen Eigenschaften aber gerade, wie bei den homöopathischen Arzneien, durch die Verdünnung um so wirksamer hervortreten. Man braucht von Rastenburg nicht weit südwärts zu pilgern, um in dies steinige Arabien zu gelangen, wo es nichts giebt als Wasser, Steine und Wälder – alles so unmalerisch wie möglich gruppirt. Der polnische Faust Twardowski, der bekanntlich zwischen Himmel und Erde in der Luft schwebt, weil er gerade auf dem Wege in die Hölle durch ein geistliches Lied die Macht des Teufels brach, würde aus Langerweile und Verzweiflung das Gleichgewicht verlieren und in einen der riesigen Wassertümpel Masurens herabfallen, wenn er verurtheilt wäre, fortwährend auf diese reizlose Naturwildniß herabzublicken.

Rastenburg hat übrigens ein Landrathsamt und ein Gymnasium, und gerade dies letztere versammelt die hoffnungsvolle Jugend der benachbarten masurischen Kreise und macht die Stadt zu einem Mittelpunkte der Intelligenz, dessen Licht ausstrahlt bis an die waldigen Ufer des Spirdingsees und bis zur jungen Festung Lötzen, die neuerdings als Strafstation für die „Vaterlandslosen“ sich einen Namen gemacht hat. Und auch für mich verknüpft sich die Erinnerung an Rastenburg mit derjenigen an Horaz, Cicero und Sophokles und an alle Studien der Prima, an Differenzial- und Integralrechnung, und an die Kant’schen Kategorieen, in deren Geheimnisse uns der brave Director Heinicke einweihte. Doch auch über die Gymnasialbildung hinaus erstreckte sich die „Cultur, die alle Welt beleckt“! Mit Eifer lasen wir die neuesten Gedichte von Karl Beck, der gerade damals sporenklirrend in die Arena unserer Lyrik getreten war, und sprachen mit den jungen Damen über Nicolaus Lenau, an träumerischen Abenden, wenn der Mond über dem einzigen Kirchthurme des Städtchens, um mit Alfred de Musset zu sprechen, wie ein Tüppelchen über dem i stand.

In Rastenburg fand ich auch meinen ersten Brockhaus und Cotta. Schon auf dem Mainzer Gymnasium hatte ich mich dem Cultus der Musen ergeben und den „Kainstempel der Dichtung“ auf meine sehr jugendliche Stirn gedrückt. In jeder Classe hatte ich meine fünfactigen Römer, einen Gajus Gracchus und Catilina vom Stapel laufen lassen, zwei große Phantasietrauerspiele: „Cerigo“ und „Die Doppelgänger“ im Grabbe’schen Styl gedichtet, ungeheuerliche Ausgeburten der Phantasie mit wilder Nordlandsscenerie und blasphemistischen Helden, Vater- und Brudermörder wider Willen, Stücke, in denen die guten Freunde ein kolossales Genie, die besseren aber die Unreife und Ueberreife einer durch unbegrenzte Lectüre erhitzten, überschwenglichen Knabenphantasie erkannten. Auch ein endloses Epos, Ferdinand Cortez, in vierundzwanzig Gesängen hatte ich gedichtet, gegen welche Wieland’s „Oberon“ ein wahres Kinderspiel war und in welchem ich nicht nur die mexicanischen Götter, wie Vitzliputzli, sondern auch die unscandirbarsten Berge, wie den Popocatepetl und Itzichatuotl in den Oberonstanzen glücklich unterbrachte.

Doch abgesehen von einigen Scenen aus „Cerigo“ und kleineren Aufsätzen, die in den Mainzer Unterhaltungsblättern zum Abdruck gekommen waren, hatte ich bisher jede Berührung mit der Druckerschwärze glücklich vermieden. Als indeß in der Einsamkeit der Kreisstadt Rastenburg die Schatten der alten Preußenhelden in meiner Phantasie lebendig wurden, als ich den frommen Dienst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_031.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)