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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Franzosen stieg dieser scheinbare Sieg bei Coulmiers gewaltig zu Kopfe. Nun konnte der Loirearmee nichts mehr widerstehen und welche Hoffnungen man auf sie setzte, hat man aus den Aeußerungen des Herrn Abbé vernommen. Es war aber doch sehr gut, daß die Dinge vor Metz ihren Abschluß erreicht hatten, daß die Truppen aus dem Morast und von dem angestrengten Dienst erlöst wurden, und daß der König seinem Neffen, dem General-Feldmarschall, in dem Sinne schreiben konnte: „Fritz Karl, jetzt marschire weiter, damit die von der Loire herauf uns hier vor Paris nicht über den Hals kommen.“

Und es wurde weiter darauf losmarschirt, trotz der Steine und Bäume, die man überall unseren Colonnen in den Weg zu werfen bemüht war, trotz der tiefen Gräben, die man hier über die Wege gezogen hatte. Die armen Schächer von Franzosen, die kennen unsere Pionniere nicht. Wenn so ein Hinderniß kam – „Angepackt, Jungen! So was darf einen Deutschen nicht geniren! Frisch drauf los!“ In einer halben Stunde war die Geschichte gemacht, und fort ging es, unaufhaltsam, und immer frisch und fröhlich, immer mit einem Scherz oder einem Liede – unser General, unsere Officiere und Soldaten haben in diesen Märschen Außerordentliches geleistet.

In Pithiviers, wo ich in dem oben erwähnten katholischen Erziehungshause Quartier fand, wurde Halt gemacht, um die Truppen in dortiger Gegend auf einem Punkte zu vereinigen; man mußte sich auch erst vergewissern, wo denn eigentlich der Feind sich aufgestellt hatte und welches seine Absichten waren. Dazu gehört Zeit, namentlich einem Feinde gegenüber, der sich unseren Fängen mit Schlangenklugheit zu entziehen suchte; denn der damalige Führer der Loire-Armee, Aurelles de Paladines oder „General Oreiller“, wie ihn unsere Soldaten nennen, ist ein ganz tüchtiger General. Den Feind durch einzelne Ordonnanzofficiere oder durch zusammengesetzte Truppenabtheilungen aufsuchen, das nennt man in der militärischen Sprache „Fühlung gewinnen“, und unsere Officiere und Soldaten bekamen es auch zu fühlen; es gab da heftige Zusammenstöße und blutige Köpfe hüben und drüben und dort mehr als bei uns. Man sagte sich, daß es zu einer Schlacht kommen würde, aber wo und wann, das wußte eigentlich Niemand. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin wurde erst mit seiner Armeeabtheilung erwartet und es kam auf die Bewegungen des Feindes an; dieser war diesmal sehr unbeständig; er wechselte mehrmals mit seinen Stellungen, er argwöhnte ein zweites Sedan; dem wollte er entgehen; aber wieder die alte Geschichte, die Maus, die auf den Speck in der Mausefalle nicht anbeißt, die fängt sich an ihrem langen Schweife.

In der Nacht vom zweiten zum dritten December, als ich eben einen süßen Traum von der Heimath träumte – da wurde an meine Thür gepocht.

„Wer ist da?“

„Eine Ordonnanz!“ war die Antwort. „Morgen früh sieben Uhr rückt das Hauptquartier ab.“

„Wohin?“

„Ist nicht gesagt. Guten Morgen!“

„Guten Morgen! Wie viel Uhr ist es denn?“

„Ein Uhr.“

Nach dieser kurzen Unterhaltung durch die Thür trabte die Ordonnanz die Treppe hinab.

Was soll das bedeuten? Wozu dieser plötzliche Aufbruch? Wodurch war dieser veranlaßt? Sollte es sich bewahrheiten, was man seit einigen Tagen munkelte, sollte der Feind wirklich beabsichtigen, Pithiviers und das Hauptquartier überfallen zu wollen? Das wäre ja nicht so sehr schwer gewesen. Stand er doch auch mit fünf Brigaden um Beaune la Rolande, ehe man sich dessen versah. Es wäre eine Unwahrheit, wollte ich sagen, ich hätte meinen Traum vom Rheine weiter geträumt; abgesehen von allen diesen Gedanken und Möglichkeiten, in welchen sich die erregte Phantasie bewegte, war das unthunlich, denn unter mir waren die beiden großen Schlafsäle „Dortoir de St. Joseph de Gonzague“ und „Dortoir de St. Charles“ zu Lazarethen eingerichtet worden; die verwundeten Preußen und Franzosen jammerten und stöhnten die ganze Nacht, daß man sich fast seines gesunden Schlafes schämte. Auf dem Hofe war das Rad, um frisches Wasser zu pumpen, fast unaufhörlich in Bewegung, und durch die Nacht ging das Heulen der Hunde, als ginge selbst ihnen der Jammer der Menschen zu Herzen.

Am frühen Morgen war der Herr Abbé sehr verwundert, mich schon gerüstet zur Abreise zu sehen. Er kam eben aus der Kirche zurück, wo er täglich um sechs Uhr die Messe zu lesen pflegte.

„Ich muß Ihnen leider Adieu sagen, mein verehrter Herr Abbé. Schade, daß wir unsere lebhaften Tischgespräche nicht fortsetzen können; aber der Aufenthalt in Ihrem Hause wird mir immer eine interessante Erinnerung sein.“

„Ah, Sie gehen so schnell? Vielleicht ein Rückzug?“

„Im Gegentheil, ein Vorgehen, Herr Abbé – auf Orleans ist die Losung.“

„Niemals, mein Herr! Geben Sie den Gedanken nur auf. Ich sage Ihnen noch nicht Adieu[WS 1]; ich denke immer, Sie werden nach Pithiviers zurückgehen.“

„Da kennen Sie die Brandenburger nicht; die gehen niemals zurück. Adieu!“

Am Sammelplatze, von dem die Abfahrt stattfinden sollte, frug ich einen Officier, warum der Befehl zum Abrücken zu so ungewöhnlicher Zeit gegeben worden sei.

„Um die Einwohner hier nicht vorher aufmerksam zu machen, um der Benachrichtigung des Feindes durch sie zu begegnen,“ war die Antwort. „Ganz sicher haben die Einwohner trotz unseres strengen Vorpostendienstes mit dem Feinde Verbindungen. Wer kann die geheimen Waldwege in dem Walde von Orleans alle kennen? Gerade heute wäre das ein verwünschter Streich.“

„Warum heute? Steht etwas zu erwarten?“

„Seine königliche Hoheit wird mit dem Stabe ebenfalls um sieben Uhr abreiten; das heißt soviel, als in den nächsten Stunden werden die Kanonen die erwartete Schlacht intoniren.“

Es war ein recht naßkalter Morgen und der Himmel hing voller Schnee, nachdem wir kurz vorher das herrlichste Wetter, den hier zu Lande sogenannten „Martinssommer“ gehabt hatten. Gegen zwei Uhr Mittags waren wir nach Toury gekommen; dort sollten wir weitere Ordre empfangen, wohin das Hauptquartier vorgehen sollte. Vor dem Orte fuhr der Wagenpark auf, große Bivouacsfeuer wurden gemacht, Kessel mit Wasser aufgestellt und in diese die Büchsen mit präparirtem Fleische gestellt. Teller gab es nicht, man aß nach türkischer Weise mit den Fingern, und zur Gesellschaft stellte sich der Schnee ein. Wie den ganzen Morgen über, so horchten wir auch jetzt überall hin, ob nirgends Kanonendonner zu vernehmen sei. Alles war still. Also keine Schlacht.

„Das Hauptquartier soll nach Artenay vorrücken!“ meldete eine ankommende Ordonnanz dem Führer der Colonne, dem Gensd’armerierittmeister Schröder.

„Artenay? das war aber am Morgen noch vom Feinde besetzt?!“

„Alles rausgeschmissen!“

„Also war doch eine Schlacht?“

„Na, und was für eine! Ich sag’ Ihnen, ganz propper. Unser Herrgott da oben hat sich heute vor dem Lärm gewiß die Ohren zuhalten müssen.“

„Aber wir haben doch nichts gehört!“

„Dann waren Sie nicht im richtigen Wind. Seien Sie froh, mir ist von dem ‚Bumbum‘ jetzt noch, als hätte ich mir eine Ohrenklappe von Pelz umgebunden.“

„Ist der Generalfeldmarschall schon in Artenay?“

„Was Sie denken! Heute war er wieder ‚All vorrup‘, erst bei der sechsten Cavalleriedivision, dann beim neunten Corps. Heute ist wieder sein Plaisir – heut’ läßt er nicht locker, und die Herren Adjutanten und Ordonnanzofficiere müssen sich die Seele aus dem Leibe reiten; heut’ dirigirt er das Ganze. Aber auch die Keile, die die Franzosen besehen haben!“

Zum Rittmeister sich wendend, ob derselbe noch weitere Befehle für dieselbe habe, sprengte die Ordonnanz davon.

Die Straße nach Artenay war mit fünffachen Colonnen bedeckt. Proviant- und Munitionscolonnen, Infanteriebataillone, Ulanenschwadronen und Wagen mit Verwundeten; die Fahrer fluchten, die Soldaten sangen, die Verwundeten stöhnten, und dabei goß es vom Himmel in Strömen. In Artenay war fast kein Durchkommen. Wo sollte in dem kleinen Orte Raum für die Tausende herkommen, die sich in den beiden Straßen der Stadt zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen den Platz streitig machten?! „Jeder von den Herren nehme Quartier, wo er es findet!“ lautete die Weisung des Quartiermachers. Das hieß eine Anweisung auf

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Adien
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_008.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2020)