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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 52. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Schluß.)

Alfred war vom Pferde gestiegen, kniete bei ihm nieder und legte Egon’s Haupt auf seinen Schooß. „Er stirbt,“ sagte er dumpf. Die scharfen Eisschollen hatten Egon die Rippen eingedrückt.

Noch einmal öffnete er die Lippen. „Alfred, Deine Mutter –“ lallte er, die Worte erstickten im Blut, das immer reicher aus der Lunge quoll.

„Herr, verzeih’ mir!“ schluchzte Paula, die zu seinen Füßen kauerte, von Schmerz und Reue geschüttelt.

Er erwiderte nichts mehr, sein gebrochenes Auge haftete an Alfred’s milden Zügen, er legte wie segnend die Hand auf seine Stirn, streckte sich und verschied.

Da vernahm man von weitem ein Geräusch wie von marschirenden Soldaten, es schien näher zu kommen. Eine tiefe Bestürzung erfaßte die Leute. „Er wird uns anzeigen,“ murmelten sie. „Er bringt uns Alle in’s Zuchthaus!“

„Werft ihn in’s Wasser, Niemand weiß davon als er; wenn er todt ist, sind wir sicher,“ flüsterte Einer auf Polnisch. Es war ein finsterer roher Bursche, den Alfred schon mehrmals wegen Raufereien bestraft. Die Leute fuhren zurück bei dem furchtbaren Vorschlag. Aber es waren ihrer noch viele da, die Alfred haßten um der Strenge willen, mit der er jederzeit Faulheit und Trunksucht geahndet.

„Jan hat nicht Unrecht,“ sagten sie auf Polnisch, „wir sind Alle verloren, wenn er am Leben bleibt. Und er hat sich auch vorhin des Grafen angenommen. Der hält nicht zu uns.“

„Er hat’s ja gesagt,“ schrie Einer, „daß er uns den Soldaten als Mörder übergeben werde!“

„Laßt uns ihn wenigstens durch Drohungen einschüchtern und zwingt ihn zu schwören, daß er nichts sagen will,“ schlugen Andere vor, „und thut er das nicht, so werft ihn hinein, Gott mög’s verzeihen.“

„Es ist ein so guter Herr,“ meinten die Saltenower.

„Geht mir mit der Güte,“ murrte Jan, „er straft ja das kleinste Unrecht wie ein Verbrechen.“

„Und thun kann er auch für Niemand mehr was, denn er ist jetzt selber so arm wie wir!“

Ein heftiger Streit entspann sich, die Meisten stimmten dem schändlichen Vorschlage bei, die Minderzahl bekämpfte ihn.

„Entschließt Euch, zum Besinnen ist keine Zeit, die Soldaten rücken immer näher,“ drängte der Erste wieder.

„Ja, redet mit ihm – sagt’s ihm auf Deutsch, daß er schwören muß!“

„Das ist nicht nöthig, Leute,“ sprach jetzt Alfred und trat mitten unter sie, „ich verstehe auch Polnisch!“

Die Menschen waren wie vom Donner gerührt. Alfred schaute sie groß und ruhig an, keine Wimper seiner durchdringenden Augen zuckte.

„Ich zürne Euch nicht,“ sagte er, „daß Ihr einen solchen Anschlag gegen mich, Euren besten Freund, machen konntet. Wäret Ihr Unterthanen von Saltenowen, so würde es mich schmerzen, weil ich dann sehen müßte, daß all’ mein Wirken und Mühen umsonst war, aber Gott sei Dank, Ihr seid es nicht, die wenigen Saltenower unter Euch sind auf meiner Seite geblieben. Aber auch Ihr Andern werdet die abscheuliche That nicht an mir verüben.“

„Wenn Ihr uns schwört, daß Ihr uns nicht verrathet –“

„Auch wenn ich nicht schwöre, werdet Ihr es nicht thun!“

Wieder entstand ein Gemurmel. Ein bedrohlicher Knäuel zog sich dicht um Alfred zusammen. Der widerliche Hauch so vieler erhitzter Menschen hüllte ihn ein. Die tückischen Augen der Masuren blitzten ihn herausfordernd an.

„Ihr wollt nicht schwören?“ fragte Jan, der verstockte Bursche, der den Anschlag zuerst gemacht.

„Nein!“ sagte Alfred fest, „Ich kann und will nicht schwören, eine Unwahrheit zu sagen, wenn man mich über diesen Fall gerichtlich vernimmt. Ich werde Euch schonen und Euer Vergehen so darstellen, daß Eure Strafe eine milde sein wird, denn Ihr seid Familienväter und Eure Rache war durch eine unerhörte That herausgefordert. Das ist Alles, was ich Euch versprechen kann – und seht, so fest ist mein Glaube an das Bessere auch im Rohesten unter Euch, daß ich trotzdem weiß, Ihr werdet nicht Hand an mich legen!“

Die Leute schlugen die Augen nieder, sie kämpften mit sich selbst.

Da schrieen einige der Rädelsführer: „Seid Ihr Narren, daß Ihr Euch so beschwatzen laßt? wollt Ihr abwarten, daß er Euch an’s Messer liefert? Herr, wenn Ihr nicht gutwillig schweigt, so machen wir Euch stumm für immer. Da heißt’s: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste.‘ – Besinnt Euch, wollt Ihr schwören oder nicht?“

„Nein!“ war die kurze Antwort.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 869. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_869.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)