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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

auf die Straße schossen. Bajonnet und Kolben arbeiten von oben herab, Haus um Haus vorwärts, bis nach entsetzlichem Blutvergießen die ganze linke Häuserreihe und damit das halbe Dorf erobert war.

Gleich im ersten Hof fiel der Oberst des Augusta-Regiments, Graf Waldersee. Man erzählt, durch Verrath. Aus einem Fenster winkten Franzosen mit weißen Tüchern, und als der Oberst auf dieses Zeichen der Ergebung näher getreten, sei er unter ihren Kugeln zusammengestürzt. „Grüßen Sie meine arme Frau!“ waren die letzten Worte, als er in den Armen der Seinen den Geist aufgab. Zu gleicher Zeit stob ein graubärtiger französischer Capitain händeringend aus einem Hause und bat um sein Leben, weil er Frau und Kinder habe.

Während dieser Häuserkampf noch tobte, begann der Angriff auf die Barricade von Neuem, und zwar durch die zweite Compagnie Füsiliere und das zweite Bataillon vom Elisabeth-Regiment unter Oberst v. Zaluskowski. Hier siegte die Begeisterung für die Fahne durch den höchsten persönlichen Muth. Der Fähndrich und nach ihm der Gefreite Karfunkelstein mit dem Eisernen Kreuz fallen mit der Fahne in der Hand, schon wanken die Kämpfer, trotz des Opfertodes, dem mehrere Officiere sich auf der Barricade preisgeben, – da eilt der alte Generallieutenant v. Budritzki, der Divisionscommandeur, heran zu Fuß, denn das Pferd ist ihm unterm Leibe erschossen, und den Säbel schwingend rafft er die Fahne vom Boden auf und stürmt mit dem Rufe „Helft, Leute! Vorwärts!“ voran. Da war kein Zögern und Halten mehr, die Barricade fiel, aber mit ihr noch mancher brave Jüngling und Mann und zuerst der Oberst v. Zaluskowski, der Führer dieser Sturmschaar.

Zu dem Kampf in den Häusern und Höfen kam nun der auf der Straße, auf welcher den Unsrigen die Granaten der Forts und die Kugeln der Mitrailleusen entgegen sausten; und nun öffneten sich auch Fenster und Thüren, Dach- und Kellerluken zum Feuer gegen die Preußen, die wiederum mit Aexten, Kolben, Säbeln und Bajonneten die Häuser öffneten, um die Gegner auf die Straße herauszuziehen. An den Häuserwänden sich hindrückend suchten die Grenadiere die Gewehrläufe der Franzosen zu packen, oder sie schossen und stachen in jede Oeffnung hinein, die ihnen erreichbar war. Besonders heftig war das Ringen in der Nähe der Kirche, wo aus zwei großen Häusern mit fürchterlichster Erbitterung auf die Unseren geschossen wurde, bis es gelang, ein Thor einzubrechen und in’s Innere zu stürmen. Da begann ein entsetzliches Gemetzel mit den kurzen Säbelklingen oder dem Kolben und der blutigen Faust. Hier gab’s keinen Pardon mehr. An einem Hause war deutsch mit schwarzer Kreide angeschrieben: „Die Preußen sind feige Hunde, wir schießen sie Alle todt!“ Von der Besatzung desselben blieb ebenfalls Niemand übrig. Em anderes Haus trug in französischer Sprache die Aufschrift mit rother Kreide: „Ihr Teufels-Preußen, ihr werdet nicht alle eure Frauen wiedersehen!“ So tobte sich ohnmächtige Rachgier aus.

Auch die andere Häuserreihe des Dorfes mußte Haus um Haus erobert werden, obgleich die Blutarbeit dadurch etwas erleichtert ward, daß aus den eroberten Häusern zur Linken gleich auf die gegenüberstehenden in derselben Straße zur Rechten geschossen werden konnte. Die französische Artillerie der Forts und Schanzen hatte bis diesen Augenblick rücksichtslos, ob die Ihren selbst darunter leiden mochten, nach le Bourget hineingeschossen; sie stellte ihr Feuer ein, als die langen Reihen der französischen Gefangenen im Freien nordwärts sichtbar wurden und die Mitrailleusen in eiligster Flucht aus le Bourget nach Süden abfuhren. Um drei Uhr war der Sieg entschieden, – aber um welchen Preis!

Da standen wir vor der blutigen Barricade, – welch ein Anblick! Nicht in Reihen, in Haufen lagen die preußischen Grenadiere da, und wie hatte der Tod sie gebettet! Viele lagen mit dem Gesicht in dem schlammigen Boden, die Beine im Todesschmerz zusammengezogen, andere auf dem Rücken, die Arme steif emporgestreckt und die glasigen Augen weit offen. Einer lag da mit gefalteten Händen, als sei er erst mit einem Gebet für seine Lieben heimgegangen. Andere waren gräßlich verstümmelt, je nachdem Eisen oder Blei die Wunden geschlagen.

Nicht etwa besser sah es in der großen Hauptstraße aus; ich mußte unwillkürlich an Leipzig nach seinem Hagelwetter von 1860 denken, nur daß hier Axt und Kolben, Granaten und Gewehrkugeln noch ein Uebriges in der Zerstörung geleistet. Unmassen von Waffen jeder Art bedeckten Fahr- und Fußweg, und die Leichen lagen dazwischen; die meisten waren dem Bajonnet oder dem Kolben erlegen, so daß oft Blut und Gehirn an den Wänden klebte. Auch die Gefahr war noch nicht vorüber, denn immer noch wurden versteckte Franzosen aus Kellern und Böden hervorgezogen, und noch Mancher setzte sich gegen die Gefangenschaft zur Wehr. Dennoch verließen wir den Ort erst, nachdem wir selbst seine unheimlichsten Plätze aufgesucht und nach Befinden skizzirt hatten. Wie sehr ich auch in diesen Feldzugsmonaten an schauderhafte Bilder gewöhnt worden bin, – schwerer brachte ich keines aus meinen Gedanken am Tage und aus meinen Träumen bei Nacht los, als die von dieser blutigsten Stätte vor Paris.




Hermann.
Novelle von C. Werner.
(Fortsetzung.)


Hermann hielt inne und fuhr mit der Hand über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn, es war augenscheinlich eine furchtbare Tortur, die er sich mit dieser Erzählung auferlegte, aber Gertrud machte keinen Versuch, sie ihm zu erleichtern, das „starre Pflichtgefühl“ des Vaters schien sich auf die Tochter vererbt zu haben, sie hörte regungslos zu. Nach einigen Secunden fuhr der Graf mit einem schweren Aufathmen fort: „Mich hatte das Entsetzen gelähmt, ich war keines Lautes fähig. Ich sah meinen Vater die Thür öffnen und nach Hülfe rufen, sah meine Mutter hereinstürzen – Was später geschah, wissen Sie. Es gelang, die Schuld auf den Todten zu wälzen –“

„O ja, es gelang!“ unterbrach sie ihn schneidend. „Die einzige Stimme, die sich für die Wahrheit erhob, die Anklage der Wittwe, wurde als ‚schandbare Verleumdung eines hochgeachteten Mannes‘ zu Boden getreten. Graf Arnau beschwor ja seine Aussage –“

„Gertrud!“

Es offenbarte sich eine so furchtbare innere Qual in diesem Ausruf, daß Gertrud in der That nicht vollendete.

„Sie müssen es mir schon verzeihen, Herr Graf, wenn mich bei der Erinnerung die Bitterkeit übermannt, wir haben zu schwer und zu lange darunter gelitten. Unser kleines Vermögen, das der Vater zur Sicherung seiner Stellung deponirt hatte, verfiel natürlich, die Mutter sah sich, gänzlich mittellos, gezwungen, Hülfe bei wohlhabenden Verwandten in W. zu suchen. Wir fanden dort eben nur Schutz vor dem Hunger und auch den nur unter einer harten Bedingung. Unsere Verwandten waren unbescholtene, streng rechtliche Bürgersleute, sie wollten einen Namen nicht unter sich dulden, der als der eines Diebes und Betrügers in den Zeitungen stand. Meine Mutter mußte sich entschließen, ihren Familiennamen wieder anzunehmen, sie that es, um ihr erst wenige Monate altes Kind nicht dem Mangel preiszugeben. Verschwiegen blieb unser Unglück deshalb doch nicht, die ganze Stadt kannte es – wir sind verfehmt gewesen, seit ich denken kann.

Es schien in der That, als ob mit diesen Erinnerungen all der jahrelang genährte Haß und Groll in dem Mädchen wieder lebendig werde, jedes Wort ihrer Erzählung ward zu einer leidenschaftlichen Anklage. Hermann hatte in finsterem Schweigen zugehört, jetzt sagte er mit einer Art von bitterer Resignation:

„Es steht noch die Frage, wer von uns Beiden mehr unter dem Verbrechen gelitten hat. Ihre Jugend mag bitter gewesen sein – die meinige war entsetzlich. Meine Mutter starb wenige Monate nach jener unseligen That, mein Vater nahm im folgenden Jahre seinen Abschied. Niemand vermochte es zu begreifen, daß er seinen einzigen Sohn und Erben mit kaum verhehltem, und in Momenten der Erregung, mit ganz offenbarem Haß behandelte, während er es doch hartnäckig verweigerte, sich auch nur auf Stunden von ihm zu trennen. Es wußte ja Niemand,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_866.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)