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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

dahin zu bringen, daß ihn sein Kurfürst abermals nach Wien sandte, um dort die letzte Ausbildung zu gewinnen.

Hier nun allerdings schwamm er nach langer schmerzlicher Bedrängung und Beengung zum ersten Male wieder auf offenem Meere, und es ist eine Freude, zu schauen, wie sein Genius in der Freiheit sich tummelt auf dem Felde eines künstlerischen Schaffens, auf dem soeben noch Gluck und Mozart gewirkt hatten und Joseph Haydn noch fleißig fortwirkte. Lebhaft und reich, wie ein langverhaltener Strom, dringt es aus seinem Innern hervor, und mit Recht hat man sein Erstaunen darüber ausgesprochen, wie es nur möglich sei, überhaupt so viel zu schreiben, als in den ersten fünf Jahren des Wiener Aufenthalts Beethoven componirt hat. Auch der materielle Gewinn mangelte zunächst nicht, weil die neuen vornehmen Gönner manch’ reiche Spende boten.

Diese übersprudelnde Kraftfülle ist denn auch der Haupteindruck seines damaligen Schaffens, das in der Sonate pathétique fast ungebändigt dahinbraust und mit unwiderstehlichem Drange auch uns ergreift. Noch ist trotz allem Druck und bitterm Erleben sein Wesen nicht in den Dienst der allgemeinen Lebenszwecke gebannt. Noch stürmt es manchmal sogar in trotzigem Ungestüm dahin und genießt rücksichtslos oder doch gleichgültig gegen sich wie gegen die Welt und Umgebung einzig des freien Spiels seiner in allen Welten umherschweifenden Phantasie.

So kommt er auch eines Tages von einem seiner gewohnten Spaziergänge in der Umgebung Wiens erhitzt in die engen Gassen der Stadt zurück und wirft in dem großen kühlen Zimmer, wie die Häuser der innern Stadt sie haben, nach seiner Art sogleich die Oberkleider ab, um durch nichts in der Ausarbeitung der draußen gesammelten Schätze gehindert zu sein. Eine heftige Erkältung war die natürliche Folge, und zum Schrecken zeigt sich bald, daß die Erkrankung gar auf denjenigen Sinn gefallen ist, den er nach seiner eigenen Versicherung in einer seltenen Vollkommenheit besaß – auf das Gehör! – Ja, von da an war der „Dämon in seinen Ohren“ und blieb da sitzen zeitlebens. Denn theils unrichtige Behandlung, mehr aber wohl die fortgesetzte eigene Unachtsamkeit, die bei dem Drang seiner Arbeit vielleicht zu begreifen ist, ließen das Uebel bald tiefer einreißen und allmählich unheilbar werden, so daß in den letzten Lebensjahren fast einzig schriftlich, das heißt durch die „Conversationshefte“ mit einem Künstler zu verkehren war, dem doch das Gehör das unentbehrlichste Organ seines Schaffens zu sein scheint.

Schreckliches Leid! Schwerster Schicksalsschlag gerade für diesen Mann, der obendrein schon als Knabe „nicht viel auf Cameraden oder auf Gesellschaft gehalten hatte“ und jetzt bald auf’s Tiefste vereinsamen sollte! – So begreifen wir, daß er schon wenige Jahre nachher, als kein Mittel mehr das Leiden bannen wollte, einem Jugendfreunde zuruft: „Ich habe schon oft – mein Dasein verflucht!“ und daß er, wie mehr als eine Stelle seiner Briefe verräth, in den ersten Jahren dieses Leidens mehrmals nahe an der Grenze des Abgrunds vorüberschritt, von dem es keine Rückkehr giebt. So ging er einmal in der sommerlichen Landschaft um Wien mit seinem Schüler Ferdinand Ries spazieren, und dieser machte ihn auf einen Hirten aufmerksam, der auf einer Flöte aus Fliederholz recht artig blies. Der arme Taube konnte wohl eine halbe Stunde hindurch gar nichts hören und wurde, obwohl Ries ihm wiederholt versicherte, auch er höre nichts mehr, was indeß nicht der Fall war, nachher außerordentlich still und finster. Es mache dieses kleine Erlebniß auf ihn den schrecklichsten Eindruck, er selbst schreibt davon später in dem bekannten „Heiligenstädter Testament“, das sich mit wenigen anderen Papieren in seinem Nachlasse fand: „Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben. Nur die Kunst, sie hielt mich zurück. Ach, es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das Alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte.“

Es war nur natürlich, daß er in seinem jetzigen mit innigem Verlangen danach umschaute, wie er wenigstens in seinem Privatleben jenes Glück oder doch das persönliche Behagen gewinnen könne, das die Welt ihm nicht mehr zu bieten vermochte. Welche Seligkeit mußte also über ihn kommen, als er eben in dieser Zeit auch wirklich ein Wesen fand, das sein Herz und seine Kunst zugleich verstand.

Die sechszehnjährige braunlockige Gräfin Giulietta Guicciardi war die liebend verstehende Seele, die den unglücklichen Mann aus der Pein der grenzenlosen mitleidenswerthen Vereinsamung erretten wollte und, wie aus seinem Briefe an sie, der mit den Worten beginnt: „Mein Engel! Mein Alles! Mein Ich!“ zu ersehen ist, allen Ernstes ihm die Hand für’s Leben zu reichen gedachte. Schon hatte „das liebe zauberische Mädchen, das mich liebt und das ich liebe“, sein Leben wieder etwas angenehmer gemacht und er ging wieder mehr unter Menschen: „Es sind seit zwei Jahren wieder einige selige Augenblicke, und es ist das erste Mal, daß ich fühle, daß Heirathen glücklich machen könnte.“ Und besäßen wir auch nicht diese Aueßerungen – es würde uns das der gräflichen Geliebten mit den schwärmerisch dunkeln Augen öffentlich gewidmete Gedicht seines liebebewegten Herzens, die unter dem freilich willkürlich erfundenen Namen „Mondscheinsonate“ allbekannte Cismollsonate (Opus 37, II) zur Genüge davon unterrichten, was damals in der Brust des weltstürmenden Titanen und doch so tief bedürftigen Menschenbildes vorging.

Allein auch dieses Glück ging bald genug in Scherben. Aus bisher unergründeten Ursachen, bei denen aber wohl der damals besonders große Standesunterschied der beiden Liebenden die ausschlaggebende gewesen ist, ward das Verhältniß jählings und, wie aus Beethoven’s späterem Benehmen hervorgeht, ohne Schuld von seiner Seite abgebrochen. Denn als Giulietta mehr als zwanzig Jahre später, nachdem sie längst die Frau des Grafen Gallenberg war, der doch auch nur „Compositeur“ und obendrein von Balletmusik war, nach Wien zurückkehrte und den ergrauten tauben Meister, wie er selbst im Conversationsheft von 1823 aufschreibt, weinend aufsuchte, hat er sie zurückgewiesen. „Und wenn ich hätte meine Lebenskraft mit dem Leben (d. h. mit dem Glück des Lebens) so hingeben wollen, was wäre für das Edle, Bessere geblieben?“ schließt er die kurze Mittheilung über dieses schmerzlichste Begebniß seines Lebens.

Wir haben aber noch andere Zeugnisse darüber, wie sehr seine Seele damals von Gram erfüllt war. Und wenn er auch nach seiner großen Art endlich in sich selbst Herr über denselben ward und das für ihn doppelt herbe Erlebniß weiblicher Untreue sogar – im „Fidelio“ – zu einem verklärten Bilde ehelicher Treue umzubilden wußte, so sagen uns doch sowohl die tiefbewegte Claviersonate in D moll (Opus 31, II) und mehr noch die leidenschaftlich stürmende Sonate in F moll (Opus 57), der man im richtigen Gefühl ihres Inhalts den Namen „Appassionata“ verliehen hat, daß mindestens dieser Kampf ihm nicht leicht geworden.

Für ihn selbst begann aber mit diesem letzten tief einschneidenden Erlebniß überhaupt ein gewisser Verzicht auf äußeres oder doch zunächst auf häusliches Glück. „Resignation“ und „Geduld“, sie wollte er jetzt „zu seines Lebens Führerinnen wählen“ und einzig seinem Schaffen leben. Jedoch noch oftmals naht sich ihm gleich einer himmlischen Erscheinung, die wenigstens für Momente schönste Hoffnung gewährt, die bald nähere, bald fernere Aussicht auf eine dauernde Herzensverbindung, und die Worte, welche er um das Jahr 1807 in sein Tagebuch schrieb, „als die M. vorbeifuhr und es schien, als blickte sie auf mich“, diese Worte: „Nur Liebe, ja nur sie vermag dir ein glückliches Leben zu geben. O Gott, laß mich sie, jene endlich finden, die mich in Tugend bestärkt, die nur erlaubt mein ist!“ – sie bekunden, daß die Sehnsucht nach jenem natürlichsten und reichsten Erdenglück, das uns beschieden, auch in seinem Herzen unerstorben geblieben war. Und selbst noch als ein guter Vierziger legte er in vertraulicher Stunde einem lebenserfahrenen Manne gegenüber das Geständniß ab, daß er „unglücklich liebe und eine Dame kennen gelernt habe, mit welcher sich zu verbinden er für das größte Glück seines Lebens halte; es sei freilich nicht daran zu denken, fast Unmöglichkeit, eine Chimäre; dennoch sei es jetzt noch wie am ersten Tage und er habe es nicht aus dem Gemüth bringen können“. Aller Vermuthungen nach aber war jene „M.“ die geistvolle südlich glühende Therese Malfatti von Wien und die andere Dame das liebenswürdige Fräulein Amalie Seebald aus Berlin, die er im Sommer 1812 in Teplitz kennen und lieben gelernt hatte.

Wenn wir uns aber jetzt zu der Frage wenden, was all diese Erlebnisse für Beethoven’s Entwicklung und also für sein Schaffen bedeuten, so bethätigt sich hier nur von Neuem das alte Wort: „Wen Got lieb hat, den züchtiget er!“ Denn gewiß wäre ohne diese Begegnisse Beethoven nicht zu jener so ungewöhnlichen Vertiefung seines Wesens und zu der idealen Auffassung des Lebens gekommen, die uns heute in ihm einen wahren Herzenskündiger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 861. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_861.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)