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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

unvergeßlichen Namen der historischen Waffenthaten, welche die betreffenden Regimenter von dem Gründer des ersten Kaiserreichs an verrichtet haben.

Ich hätte nicht an Stelle des Generallieutenants von Kummer, des neuernannten Commandanten von Metz, sein mögen. Der sehr verdiente General, der sich mit seiner braven Landwehrdivision soviel unter den Mauern der Forts von Metz hatte herumschlagen müssen, war einer der ersten Preußen in der Stadt; er kam kurz nach dem Ausmarsche der Franzosen eingeritten, ehe noch unsere Bataillone einmarschirt waren, nur von einigen Adjutanten begleitet. In der Stadt waren fast nur französische Soldaten zu sehen, die sich auf den Straßen drängten. Die Einwohner wagten sich nur erst ganz vereinzelt hervor. Der ganze weite Hof vor dem Hôtel de l’Europe, das durch einen Vorgarten und ein Gitterthor von der Straße abgeschlossen ist, war von Officieren aller Waffengattungen und Grade angefüllt. Jeder von ihnen war in diesem Augenblicke nur mit drei Fragen beschäftigt: „Wie und wann komme ich aus Metz? Wo komme ich hin? Wie wird es mir dort gehen?“ Alle Bande der Cameradschaft, der Gemeinsamkeit waren zerrissen; der Egoismus, der durch den Krieg so sehr geschärft war, drängte sich in seiner unverhülltesten Gestalt hervor. Einer trachtete über die Leiche des Andern hinweg zu seinem Ziele zu gelangen – das war ein buntes Gewimmel, ein nervöses und zuckendes Bewegen, ein aufgeregtes und lautes Peroriren, eine gespannte Erwartung auf den neuen Commandanten, den General de Chagrin, wie mich ein Franzose nach ihm fragte. Wahrscheinlich hatte man diesem den Namen übersetzt.

Es waren an sechstausend Officiere, über fünfzig Generale und drei Marschälle, denen ihr Aufenthalt in Deutschland angewiesen werden mußte, und von diesen hatte jeder einen Lieblingswunsch und mancher sogar deren mehrere. Der Eine wollte nach Aachen, weil man dort noch Französisch spräche und er sich mit dem Deutschen nicht herumzuplagen brauche und weil Aachen nicht in Preußen läge; ein Anderer nach Stuttgart, weil dahin seine Frau und Kinder nicht so weit zu reisen brauchten und man dort nicht wie in Preußen Bier zu trinken brauche, ein Getränk, das er verabscheue; ein Dritter wünschte seinen Aufenthalt in Offenbach zu nehmen, weil das die Geburtsstadt „du charmant musicien“ sei und er doch Menschen zu finden hoffe, die ebenso amüsant seien wie die Melodien seines Lieblingscomponisten; nach Wiesbaden und Baden-Baden wünschten die Meisten dirigirt zu werden, Viele auch nach Frankfurt am Main, weil es dort viele reiche Leute und hübsche Mädchen gäbe; aber über die Mainlinie wollte so leicht Keiner, wenigstens verlangte kein Einziger nach Spandau gebracht zu werden; denn dieser Ort sowie Potsdam gilt den Franzosen als der Inbegriff aller „terreur prussienne“. Sollten aber wirklich Rothhosen dorthin gebracht werden, dann bin ich gewiß, sie werden diese „terre maudite“ so reizend finden und werden deren Bewohner so lieb gewinnen, daß sie sich dort niederlassen, Bürger werden und um Aufnahme in einen Gesangverein nachsuchen. Und doch Einer, ein langer, schlanker Mensch mit einem gelben Wachsteint, schwarzem Barte und großen unternehmenden Augen – wenn ich nicht irre, wurde er mir als Husarenofficier bezeichnet –, der wollte nach Stettin gebracht werden. Nun ist dieses Verlangen zwar nicht etwas so Besonderes; bei einem Franzosen jedoch mußte ein solcher Wunsch immerhin auffallen, und der Officier konnte sich auch nicht enthalten, dem jungen Franzosen sein Erstaunen zu äußern.

„Ich will arbeiten lernen,“ versetzte dieser, den Kopf stolz und energisch zuriickwerfend. „Ich will Kaufmann werden, mein Vater ist ein großer Grundbesitzer in der Nähe von Bordeaux, und ein Weinhändler aus Stettin kam in jedem Jahre, ihm die Ernte abzukaufen. Daher kenne ich den Namen Stettin und weiß, daß es ein großer Handelsplatz ist.“

„Mein Herr,“ versetzte der preußische Ossteier, „erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Hand reiche, das ist ehrenhaft, das flößt mir nach dem Meisten, was ich hier gehört habe, vor Ihnen die größte Achtung ein. Verlassen Sie sich darauf, Ihr Wunsch soll, soweit ich es vermag, berücksichtigt werden.“

Bekanntlich wurden die Marschälle auf ihren Wunsch nach Kassel dirigirt. Einem viel genannten General mußte erst von einem preußischen Officier die Reiseroute dahin auf der Karte nachgewiesen werden, und Ersterer freute sich ungemein, daß Kassel nur etwa eine Stunde von Wiesbaden liege.

„Bitte, mein General, von Wiesbaden fahren Sie noch etwa sechs Stunden auf der Bahn bis Kassel, so lange etwa, als Sie von Saarbrücken zurück nach Metz gebraucht haben.“

„Ah, mais non! Wie ist das möglich? Hier liegt es doch ganz nahe von Mainz.“

„Ja, wenn Sie Castel meinen, das wohl, aber Kassel und Castel – das ist zweierlei.“

Am ersten November konnte man auf dem Bahnhofe von Metz von zwei zu zwei Stunden die deutschen Schaffner die Züge für die abreisenden Marschälle, für die Generalcommandeure der Corps und der Divisionen ausrufen hören; die Namen waren eine Geschichte des zweiten Kaiserreichs Napoleon’s des Dritten. Der zweite December, der Krimkrieg, Italien, Cochinchina und Mexico – alle diese Erinnerungen wurden in der Bahnhofshalle von Metz von deutschen Zungen aufgerufen, und die Aufgerufenen traten auf die Einladung eines preußischen Stabsofficiers, des Oberst Kurth, auf den Perron und nahmen in den Waggons Platz.

Als der Zug abfahren sollte, kam ein Divisionsgeneral auf den genannten Officier zu und bat ihn, zu erlauben, daß zwei in tiefe Trauer gekleidete Damen auf dem Perron zugelassen würden. Die eine derselben war etwa fünfzig Jahre alt und zeigte jene Würde, welche älteren Damen aus der guten Gesellschaft Frankreichs eigen zu sein pflegt; die andere war jung, elegant und schön wie ein Traum des Paradieses; beide Damen zeigten unverkennbare Aehnlichkeit miteinander.

Es war die Marschallin Niel mit ihrer Tochter, einer Gräfin ***; die Mutter und die Tochter wollten dem Sohne, dem Bruder vor seiner Abreise noch Adieu sagen.

Die Gemahlin und die Tochter des Mannes, des einzigen in Frankreich, der vielleicht General Moltke’s ebenbürtiger Gegner gewesen wäre – hier an diesem Orte! Sie waren in einer Ambulance thätig gewesen und in Metz eingeschlossen worden. Da sie nach der Capitulation bei der alle Quartiere mit Officieren und Soldaten belegt wurden, keine Wohnung finden konnten, waren sie die ganze vergangene Nacht auf dem Straßentrottoir auf und nieder gegangen und vor Anstrengung und Hunger so erschöpft, daß Oberst Kurth den beiden Damen aus dem Vorrathe des Banquiers Wolf aus Hamburg, der mit einem Eiszuge nach Metz gekommen war, Wein und kaltes Fleisch holen mußte.

Die Marschälle von Frankreich scheinen allesammt junge, reizende Frauen zu haben; die Marschallin Mac Mahon ist eine allerliebste Erscheinung, ebenso rühmt man die Schönheit der Gemahlin Bazaine’s, auch die Marschallin Caurobert kann man eine schöne Frau nennen, sie war auf dem Bahnhofe, als der Zug ihres Gemahls abfuhr; es war eine Scene, die zu Thränen rühren konnte, wenn man sah, mit welcher innigen, zärtlichen Liebe der alternde Mann und diese blühende Frau aneinander hingen, wie tief der Schmerz der Trennung in Beider Herzen wurzelte.

In dem Augenblicke, wo der Zug sich in Bewegung setzen sollte, drängte sich ein Civilist durch die Menge, übergab dem Oberst Kurth einen Brief und war verschwunden. Der Empfänger öffnete den Brief und las:

„Lassen Sie den Zug nicht abgehen; man führt Böses gegen die Marschälle und Generale im Sinne; vor Nancy sind die Schienen aufgerissen.“

Wer war der Schreiber dieser Zeilen? Woher hatte er die Nachricht? Was hatte man gegen die Abreisenden vor? Wo war der Ueberbringer? Er war fort – verschwunden, und jetzt ertönte das Zeichen zur Abfahrt. Sollte man den Zug auf Grund dieser Zeilen nicht zurückhalten? Oder führte man gegen die Reisenden vielleicht in Metz noch etwas im Schilde – wollte man die Abreise absichtlich verzögern? Nein! der Zug soll gehen, aber der elektrische Funke soll ihm vorausfliegen und von Bahnhof zu Bahnhof die größte Vorsicht empfehlen. In zwei Stunden konnte der Zug in Nancy sein – bange Erwartung bis dahin, endlich nach drei Stunden kam eine Depesche zurück,, sie war aus Nancy und lautete: „Alles in Ordnung gewesen, kein Unfall!“ Die Abreise des zweiten Kaiserreichs aus Frankreich war also glücklich von Statten gegangen.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_859.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)