Seite:Die Gartenlaube (1870) 850.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

jungen und alten Fichten war von einer Eiskruste überzogen. Tausendfältige zierliche Formationen gefrorener Gräser und Sträucher bedeckten den Boden, überzogen von unzähligen Spinnweben, an deren feine Fäden sich Millionen von winzigen Eissplittern angesetzt und sie zu rauhen silbernen Schnürchen verwandelt hatten. Der ganze Wald glich einem Meisterwerk aus mattem getriebenem Silber, als bestünde die Welt nur aus Kindern, für die der höchste Herr und Meister solch kostbares Spielzeug zu schaffen sich bemühte. Auch Alfred trat seine Kindheit wieder vor die Seele hier mitten in all dem kalten Silberglanz und er dachte an das Rückert’sche Bäumlein, das silberne Blätter wollte haben. Hier waren lauter solche verzauberte Bäume und sie ragten so still und steif in ihrem starren Schmuck empor, daß es nicht einmal dem Winde gelang, sie zu bewegen. Nur dann und wann krachte es tiefer im Dickicht, wo der Schnee in ungeheuren Klumpen zwischen dem Gezweig zusammengeballt war, und ein zu schwer belasteter, vom Frost spröde gewordener Ast brach unter der schimmernden Bürde vom Stamme herab. Eine Nebelkrähe flog kreischend auf. Dann war Alles wieder still. „Solche Ruhe, solcher Friede inmitten der Gährung und des qualvollen Ringens eines sterbenden Volks! Welch ein Gegensatz!“ sagte Alfred zu sich selbst, und der Hauch seines Mundes zog als weiße Wolke vor ihm her, wie ein Geist, der ihm den Weg zeigen sollte.

Endlich war die andere Seite der Borken’schen Forst erreicht und das alte graue Schloß hob sich scharf ab von der Fülle silbernen Schimmers ringsumher. Er umging das Gebäude und näherte sich den Scheuern und Ställen, welche daran angebaut waren, um den Verwalter zu suchen. Es war noch früh. Die faulen Knechte schlichen schläfrig umher und stierten den Ankömmling dumm an. Da sah Alfred in dem gefrorenen Gebüsch eine schwarze Masse an der Erde, er näherte sich ihr und fand eine Frau bei zwei, wie es schien, schlafenden Kindern liegen. Er bückte sich, um sie aufzuheben, sie waren sämmtlich todt. Alfred rief die Knechte herbei. Sie kamen gleichgültig heran.

„Was ist das für eine Frau?“ fragte Alfred und untersuchte die Leichen, die nur noch Haut und Knochen waren.

„Ach, das ist die Frau, die sich immer mit den Kindern Nachts in den Stall schlich, ’s ist eines Lehrers Wittwe, der Mann ist am Typhus gestorben.“

„Mein Gott!“ rief Alfred entsetzt, „sie hat, wie es scheint, erst die Kinder und dann sich selbst erwürgt!“

„Das hat sie wohl gethan, weil sie der Hunger zu sehr quälte,“ erklärte einer der Knechte. „Wir haben schon lange bemerkt, daß die eine Kuh, die der Thür zunächst stand, weniger Milch als sonst gab. Vorgestern paßte der Verwalter auf und entdeckte, daß eine Frau mit zwei Kindern hereinschlich und daß sie von der Kuh tranken. Deshalb schloß der Verwalter gestern den Stall zu – nun hat sich die Frau wohl nicht mehr zu helfen gewußt und hat lieber gleich ein Ende gemacht.“

„Gräßlich!“ rief Alfred.

„Ich weiß noch Mehrere, die ihre Kinder erwürgt haben, weil sie das Geschrei nicht mehr aushielten,“ fuhr der Knecht phlegmatisch fort, „der Verwalter hat’s aber vertuscht,“

„Ruft mir den Grafen und den Verwalter!“, befahl Alfred zitternd vor Entrüstung.

Er mußte lange warten.

Endlich kam Schmetthorn mit seinem verschmitzten Lächeln und seiner widerlichen Galgenphysiognomie. „Der Herr Graf bedauern, nicht erscheinen zu können, sie liegen noch im Bette,“ sagte er, aber das Wort blieb ihm im Halse, als er die Leichen am Boden sah.

„Schurke,“ schrie ihn Alfred an, „Schurke, der längst in ein Zuchthaus gehörte, das ist Dein Werk! Statt der armen Frau den Tropfen Milch zu gönnen, der ihr Leben fristete, stießest Du sie hinaus in die Kälte und ließest sie sterben! Und sie ist nicht das einzige Opfer Deiner Unmenschlichkeit nirgend ist das Elend so hoch gestiegen wie in Schornkehmen! Aber ich bin Dir auf den Fersen und werde Dir das Handwerk legen, Du Hund!“

„Herr Baron,“ zischelte Schmetthorn, „ich bin ein ehrlicher Mann und ich dächte, Ihre Frau Mutter, wenn sie noch lebte, hätte Sie hierüber bestens belehren können.“

„Ja, weil ich weiß, daß Du den Namen meiner Mutter noch im Grabe auf’s Neue beschimpfen kannst, weil Du von ihr bestochen worden, deshalb schone ich Dich, sonst hätte ich Dich längst den schweizer Behörden ausgeliefert. Aber es wird dennoch geschehen, wenn Du nicht augenblicklich meine Befehle vollziehst. Wie ich hörte, hast Du und Dein nichtswürdiger Gebieter, der jedoch nur ein Spielball ist in Deiner Hand, große Vorräthe von Korn aufgespeichert, mit denen Ihr Wucher treibt, während die Unterthanen von Schornkehmen Hungers sterben! Du wirst mir diese Vorräthe für den landwirthschaftlichen Verein zu den jetzigen Durchschnittspreisen ablassen, damit wir sie an die Bedürftigen Eures eigenen Guts vertheilen, da es noch Zeit ist. Weigerst Du Dich, dann werde ich Zwangsmaßregeln gegen Dich ergreifen, die diese Gegend auf immer von Dir befreien! Entscheide Dich, öffne Deine Speicher, Du hast keine Minute Zeit, Dich zu bedenken.“

Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Angesichts der drei todten Opfer des Schuftes schloß Alfred das Geschäft mit Schmetthorn ab. Es waren die letzten Ersparnisse, die er hiezu beisteuerte, denn der Kauf überstieg weitaus die vom Verein ausgeworfene Summe. Aber leichten Herzens ging er von dannen, er hatte für den Augenblick Alles gethan, was in seinen Kräften stand, und konnte getrost seine Wirksamkeit in der Kammer für das arme Land beginnen.

„Wart’, Bürschchen,“ murmelte ihm Schmetthorn wüthend nach, „es wird wohl auch einmal ein Tag kommen, wo man Dir an den Kragen kann! Dann sollst Du mir heimzahlen mit Zinsen!“

(Fortsetzung folgt.)




Der letzte Brief.[1][WS 1]

Am Himmel Abendsonnengluth,
Und Spicherns Höhe trieft von Blut,
Der Himmel roth, der Berg so roth,
Und tausend Helden starr und todt.

Nur der dort an der Mauer lehnt,
Der stirbt nicht, weil sein Herz sich sehnt,
Sein junges Herz, das steht nicht still,
Weil ein Wort es noch sagen will.

Gottlob, du treuer Camerad,
Dich führte Gott den rechten Pfad.
Kann ich dir helfen, Bruder, sprich,
Wie lab’ ich dich, wie rett’ ich dich?

Er kniet zu ihm, das Haupt geneigt.
Und auf die trockne Lippe zeigt
Der Todeswunde, und ihn letzt
Der Tropfen, der die Lippe netzt.

Du tapfres Herz, das alle Kraft
Für’s letzte Wort zusammenrafft!
„O schreibe!“ – Sieh, ich bin bereit.
Und er dictirt sein letztes Leid.

Aus wunder Brust haucht’s tief und hohl:
„Du liebe Mutter, lebe wohl!“
Das war sein Brief und letzter Will’.
Das junge Herz, nun stand es still.
 Friedrich Hoffmann.


  1. Unser Bild, von einem Künstler, dessen Griffel der Kenner auf den ersten Blick herausfindet, stellt eine Scene dar, die sich nach der Schlacht bei Saarbrücken zutrug. Ein Westphale, zur Hülfe für die Verwundeten abgeschickt, fand einen preußischen Infanteristen, der an einer Mauer lehnte. Ein Schuß durch den Leib hatte ihn tödtlich getroffen. Auf die Frage des Westphalen, ob er zu trinken begehre, schüttelte der Arme, dessen jugendliches Antlitz der Schmerz furchtbar entstellt hatte, das Haupt, deutete aber an, ihm die trockenen Lippen anzufeuchten. Als dies geschehen war, fragte er den Westphalen, ob er schreiben könne; dieser bejahte es, seine Brieftasche hervorziehend. Und nun dictirte der Sterbende: „Liebe Mutter, leb’ wohl!“ und die Adresse: „Berlin, Oranienstraße Nr.…“ In diesem Augenblick bat ein anderer Verwundeter dicht dabei um einen Trunk, der Westphale reichte ihm diesen, und als er sich wieder umdrehte, athmete sein Schützling noch einmal tief auf und verschied.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Illustration von Friedrich Wilhelm Heine
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 850. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_850.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)