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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

derselben, welche an Bildung der großen Körperhöhlen Antheil nehmen, wie der Brust- und Beckentheil, sind nach vorn ausgehöhlt und vermehren so die Geräumigkeit dieser Höhlen (der Brust- und Beckenhöhle), während der Hals- und Lendentheil nach vorn gewölbt sind. Ginge die Wirbelsäule durch die Mitte des menschlichen Körpers und wäre das Gewicht der an die Säule angehefteten Weichtheile gleichförmig rings um sie vertheilt, so wäre eine Krümmung derselben unnöthig. Da sie aber an der hintern Körperwand ihre Lage hat und nach vorn durch die Brust- und Baucheingeweide einseitig belastet ist, so sind ihre Biegungen eine unerläßliche Bedingung der Balance, welche übrigens durch die zu beiden Seiten der Wirbelsäule liegenden Rückenmuskeln (Rückgratsstrecker) auch noch in Ordnung gehalten wird. Demnach ist die natürliche schlangenförmige Krümmung der Wirbelsäule, bei welcher auf jede convexe Krümmung eine concave folgt (so daß sie sich einander compensiren), ein ganz nothwendiges Erforderniß für die Tragkraft der Säule bei aufrechter Körperstellung und also ein besonderes Attribut des menschlichen Körpers. Der Kopf kann in Folge dieser abwechselnd entgegengesetzten Krümmungen der Wirbelsäule (indem dadurch die Endpunkte der Biegungen in der Längenachse des Körpers senkrecht über einander gestellt sind) ohne große Muskelanstrengung senkrecht über der Drehungsachse des Beckens balanciren. Bei kleinen Kindern, welche noch nicht gelernt haben, die Last ihres Leibes vertical zu tragen, noch nicht aufsitzen und laufen können, fehlen noch die vier Krümmungen der Wirbelsäule. – Jede abnorme Krümmung der Wirbelsäule stört die Gleichgewichtsverhältnisse derselben und zieht zur Wiederherstellung der Balance eine zweite Krümmung und zwar der benachbarten Rückgratsportion nach der entgegengesetzten Seite hin nach sich. Man nennt diese zweite, zur abnormen Krümmung hinzutretende und nach der entgegengesetzten Seite gerichtete Krümmung die compensirende, ausgleichende. Krümmt sich z. B. der Brusttheil der Wirbelsäule nach rechts, so geht die compensirende oder secundäre Krümmung des Lendentheiles nach links.

Der Brusttheil der Wirbelsäule ist es nun, welcher die meiste Beachtung verdient, denn die am häufigsten vorkommende Rückgratsverkrümmung ist die seitliche (Scoliose) und tritt am gewöhnlichsten im Brusttheile nach rechts auf; sie wird durch eine nach links gerichtete Krümmung des Lendentheiles compensirt, ist also Sförmig. Daß nun aber die krankhafte Rechtskrümmung der Brustwirbelsäule so sehr häufig ist und weit häufiger zu Stande kommt, als eine linkseitige Krümmung, hat seinen Grund hauptsächlich mit darin, daß eine Brustkrümmung nach rechts schon von Jugend auf mehr oder weniger ausgesprochen ist und eine natürliche zu sein scheint. Man hält sie für das Product der angeborenen Ungleichheit des Brustkastens (der in seiner rechten Hälfte größer ist) und des vorwaltenden Gebrauchs des rechten Armes. Bei kleinen Kindern, welche noch nicht viel mit dem rechten Arme gethan haben, fehlt diese rechtseitige Brustkrümmung, die übrigens so wenig auffallend ist, daß sie in der Regel ganz übersehen wird. – So lange nun die auf die Wirbelsäule wirkenden Kräfte einander das Gleichgewicht halten, kann keine seitliche Verkrümmung entstehen; wird aber der Schwerpunkt vorwiegend auf eine Seitenhälfte der Wirbel verlegt, so erzeugt der auf diese Hälfte wirkende zu große Druck hier eine Behinderung der Ernährung und dadurch eine Höhenabnahme dieser Wirbelhälfte, so daß also dann die seitliche Rückgratsverkrümmung hauptsächlich auf einem ungleichen, durch Druck erzeugten Wirbelbaue beruht, wobei die der convexen Seite zugekehrten Wirbelhälften schwer aufeinander gepreßt und zugleich nach der entgegengesetzten Seite gedrängt werden. Solche Veränderungen treten aber während des Wachsthums, zu einer Zeit, wo die Wirbel noch in der Entwickelung begriffen sind, am leichtesten ein. – Störungen der Gleichgewichtsverhältnisse der Wirbelsäule kommen nun aber schon von der ersten Kindheit an gar nicht selten vor, und deshalb findet sich die seitliche Verkrümmung des Rückgrates, welche durch die große Biegsamkeit des wachsenden Rückgrates und die unkräftige Rückenmusculatur begünstigt wird, auch schon vor den Schuljahren so häufig. Kleine Kinder werden leicht dadurch schief, daß sie zu zeitig aus dem Wickelbettchen genommen und zum Aufsitzen und Laufen gezwungen werden, daß man sie beständig auf demselben Arme trägt und stets an der nämlichen Hand führt, daß sie zu lange stehen und stillsitzen müssen (wobei das müde Kind zusammensinkt und sich nach seitwärts krümmt), und daß sie jahrelang Zimmerthüren mit hochangebrachten Klinken mit derselben Hand öffnen. Es trägt ferner noch zum Schiefwerden bei: das zur Gewohnheit gewordene Schiefstehen, Schiefsitzen, Höhertragen einer Schulter, das Tragen von Gegenständen nur auf dem einen Arme, die falsche Haltung beim Arbeiten im Sitzen (besonders bei den weiblichen Handarbeiten), das Stützen nur des einen Armes auf hohen Tisch, Rahmen etc., ungenügende und ungleichmäßige Muskelthätigkeit auf der einen Seite des Rückens. – Auch beim leichtestem Anfange muß die Scoliose sogleich beachtet und als ein schwer zu heilendes Uebel energisch und consequent behandelt werden. Am gefährlichsten für die Ausbildung dieser Rückgratsverkrümmung sind die Zeiten, in welchen das Kind rasch wächst, besonders zwischen dem zwölften und vierzehnten Jahre, wo sie oft plötzlich rasche und bedeutende Fortschritte macht. – Die ersten Spuren der Scoliose zeigen sich in der Regel am untern Winkel des (rechten) Schulterblattes, welcher etwas mehr hervorragt. Dann tritt der hintere Rand des Schulterblattes in ein anderes Verhältniß zu den Stachelfortsätzen der Brustwirbelsäule, als derselbe Rand des andern Schulterblattes, und nach und nach bildet sich eine Einbiegung zwischen der (rechten) zwölften Rippe und dem Hüftkamme aus.

Durch die Schule wird bei manchen Kindern eine krankhafte Rechtskrümmung der Brustwirbelsäule veranlaßt; häufiger aber noch wird hier eine schon beim Eintritt in die Schule vorhandene Scoliose geringeren Grades bedeutend gesteigert. Dies hat seinen Grund darin, daß der Schüler entweder vom Lehrer zur richtigen Haltung beim Sitzen nicht angehalten wird, oder daß theils in Folge von Ermüdung der Rückenmuskeln, theils in Folge unzweckmäßiger Subsellien (zu hoher Tischplatten und zu großen Abstandes der Bank vom Tische) der Schüler zum Schiefsitzen gezwungen ist. – Was die Haltung des Schülers, besonders beim Arbeiten (vorzugsweise beim Schreiben) im Sitzen, betrifft, so muß diese eine solche sein, daß bei geradem Sitzen die beiden Schultern desselben stets in gleicher Höhe stehen, und nicht etwa die eine (die rechte) eine weit höhere Stellung als die andere einnimmt. Vorzugsweise beim Schreiben nehmen die Kinder, wenn sie über die richtige Schreibstellung nicht belehrt werden, aus Nachlässigkeit und Ermüdung, oder wenn sie an zu hohem Tische schreiben müssen, eine so üble Haltung an, daß dabei die Stellung des Rückgrates ganz der beim ausgebildeten Schiefsein gleicht. Es besteht diese falsche Haltung aber darin, daß (bei nach vorn gekrümmter und nach rechts gedrehter Wirbelsäule, sowie bei nach vorn und links gebeugtem Kopfe und Rumpfe) nur der ganze rechte Vorderarm auf den Tisch fest aufgelegt wird, während der linke Arm bis zur Hand vom Tische heruntergezogen und an die linke Seite des Rumpfes angepreßt ist. Auf diese Weise muß natürlich die rechte Schulter weit höher als die linke zu stehen kommen. Die richtige Haltung des sitzenden und arbeitenden (schreibenden oder zeichnenden) Kindes bestehe nun darin, daß der Oberkörper desselben vollkommen aufrecht erhalten wird, beide Vorderarme bis etwa zu ihrer Mitte (nicht bis mit den Ellenbogen) auf den Tisch aufgelegt werden und die Querachse des Körpers mit dem Tischrande parallel liegt, so daß das Kind gerade und so nahe als möglich vor dem Tische sitzt, seine Stütze im Rückgrate und nicht in den aufgelegten Armen findet, und daß seine beiden Schultern in ganz gleicher Höhe stehen. Natürlich müssen die Subsellien so eingerichtet sein, daß sie eine solche richtige Haltung des Kindes ermöglichen, daß also Tische und Bänke in richtigem Verhältnisse zu der verschiedenen Körpergröße der Kinder stehen, der Tisch ja nicht zu hoch und der Abstand der Bank vom Tische nicht zu groß sei. Auch müssen die Füße und Oberschenkel mit dem größten Theile ihrer Unterfläche ordentlich ausruhen können.

Bei den zweckmäßigsten Subsellien (Tischen und Bänken) würde nun aber das Schulkind doch schief werden müssen, wenn demselben vom Lehrer zugemuthet würde, länger, als es die Rückgratsstreckmuskeln aushalten können, gerade zu sitzen. Und hierin wird von den Lehrern am meisten gefehlt, und zwar deshalb, weil sie auf die Beschaffenheit der Musculatur ihrer Schüler gar keine Rücksicht nehmen, und weil sie meinen, die Bänke müßten Lehnen zur Unterstützung des Geradesitzen haben, nicht aber zum Ausruhen der beim Geradesitzen angestrengten Rückenmuskeln durch behagliches Anlehnen. Wenn auch in Folge des schlangenförmigen Baues der Wirbelsäule Kopf und Rumpf bei aufrechter Haltung im Stehen und Sitzen ohne große Muskelanstrengung in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_820.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)