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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Grenze auch für ihre Selbstbeherrschung, sie hatte es nicht vermocht, heut’ ruhig beim Frühstück zu erscheinen und über den „Spazierritt“ sprechen zu hören, sie allein kannte ja seine Bedeutung. Ja wohl, es war eine furchtbare Aufgabe, zu schweigen und zu zittern, mit dem vollen Bewußtsein dessen, was die nächste Stunde bringen konnte, unthätig hier zu harren, während dort drüben die blutige Entscheidung fiel; es ging fast über Menschenkräfte. Sie hatte das ihr abgedrungene Versprechen gehalten, kein Laut des Verraths war über ihre Lippen gekommen – was dies Schweigen sie aber gekostet, das wußte nur sie allein.

Man sah es dem Mädchen an, daß diese Nacht kein Schlaf in ihre Augen gekommen war, die sich immer wieder mit dem Ausdruck qualvollster Spannung auf das Fenster hefteten. Heiter und golden lachte der Sonnenschein aus den weiten Feldern ringsum, über den noch in blauen Duft gehüllten Forsten. Vom Morgenwinde geschwellt wogte das Korn leise auf und nieder, und hoch oben am klaren Himmel schossen die Schwalben in raschem Fluge hin und her. Aber der Weg, der in die Waldung führte, blieb leer, nicht ein einziger Reiter wollte sich dort zeigen.

Es war vorbei, völlig vorbei mit dem Stolz und der Selbstbeherrschung Gertrud’s. Was sie sich in dieser ganzen Zeit nicht gestehen wollte, was sie noch gestern Abend versucht sich abzuleugnen, die Todesangst dieser Nacht hatte sie es erkennen gelehrt. „Er soll seine Thorheit nicht mit dem Leben büßen, wenn er auch schwerlich die gleiche Großmuth gegen mich üben wird!“ Die Worte wollten nicht aus ihrem Gedächtniß weichen. Eugen würde keine Großmuth üben, das wußte sie, er war rachsüchtig, wie alle schwachen Menschen, und ergriff mit Freuden die Gelegenheit, sich an dem zu rächen, dessen geistige Ueberlegenheit ihn so oft gedrückt und erbittert – und auch er war seiner Waffe sicher und verstand sein Ziel zu treffen.

Sie stürzte auf die Kniee nieder und hob in namenloser Angst die gefalteten Hände empor. Sie wußte es jetzt, wem dies Gebet galt, hatte es ja schon gestern gewußt, als jene ernste harte Stimme so weich gefragt: „Gertrud, warum hassen Sie mich?“ Wenn sie sich auch noch einmal aufraffte zum letzten verzweifelten Widerstande, wenn sie auch den grausamen Muth besaß, ihm das eine Wort zu versagen, um das er bat – es war doch umsonst gewesen. Jetzt hätte sie es ihm nachrufen mögen, jetzt, wo es zu spät war. Wie eisig kalt hatte sein Lebewohl geklungen – vielleicht war es das letzte. – Da plötzlich ertönte Hufschlag in der Ferne, Gertrud eilte an’s Fenster, wie so oft schon vergebens, wenn sich drunten etwas regte, aber diesmal war es keine Täuschung. Ihr Auge hätte den Reiter erkannt, und wäre er noch so fern am Saume des Waldes erschienen; von seinem Reitknechte gefolgt, sprengte Graf Arnau heran.

Das war zu viel, dies plötzliche Erscheinen des schon verloren Geglaubten entschied Alles. In dem Aufschrei eines grenzenlosen Glückes, der sich unbewußt ihrer Brust entrang, in dem Ausdruck ihres Gesichts lag das Geständniß, zu dem sich die Lippen nun und nimmermehr herbeigelassen. Sie flog nach der Thür, es war vorbei mit Besinnung und Ueberlegung, sie wollte und mußte ihm entgegen!

Ein schwerer dumpfer Schlag, dem ein krachendes Geräusch folgte, hemmte plötzlich ihren Fuß und ließ sie erschreckt zurückblicken. Einer ihrer Reisekoffer, den sie gestern Mittag bereits hervorgezogen und theilweise gepackt hatte, war von seinem Gestelle herabgestürzt. Ein einfacher, leicht erklärlicher Zufall, sie selbst hatte wahrscheinlich im hastigen Vorüberstreifen daran gestoßen, aber die fieberhaft geröthete Wange des Mädchens war plötzlich weiß geworden. Langsam glitt ihre Hand an der bereits halbgeöffneten Thür nieder, langsam drückte sie diese wieder in’s Schloß und zögernd, Schritt für Schritt, näherte sie sich endlich der Ecke neben dem Fenster. Es war ein seltsamer Ausdruck in ihrem Gesicht, ein Grauen fast wie vor Geisterspuk, und mit einer Scheu, als gelte es wirklich einem solchen zu begegnen beugte sie sich nieder, um den angerichteten Schaden zu betrachten und doch schien dieser so gering.

Es war ein kleines unscheinbares Köfferchen, ein altmodisches unansehnliches Geräth, das noch aus ihrem elterlichen Hause stammte. Es war einst Eigenthum ihres Vaters gewesen, und nur ein Gefühl der Pietät hatte die Tochter bisher verhindert, sich davon zu trennen. Dies Erbtheil, fast das einzige, das die Waise noch besaß, hatte sie bisher treulich bei jedem Wechsel des Aufenthaltes begleitet und jetzt auf einmal stürzte es herab und zerbrach, gerade in dem Augenblick, wo sie im Begriff stand – Gertrud wagte es nicht, den Gedanken zu vollenden, heftig schob sie die herausfallenden Bücher bei Seite und hob den Deckel empor.

Die Rückwand des Koffers war im Falle geborsten, sie klaffte weit aus einander und aus dem Spalt, zwischen dem Holze und dem innern Lederfutter eingeklemmt, blickte ein Papierstreifen hervor. Mechanisch griff Gertrud danach, sie zog das Papier heraus und wollte es bei Seite legen, da fiel plötzlich ihr Blick auf ein Wort, auf eine Unterschrift – sie strich hastig mit der Hand über die Augen, es konnte doch nur eine Vision sein, daß sie immer und überall den Namen sah, der jetzt ihr ganzes Denken ausfüllte, aber auch beim zweiten Blick wollte die Täuschung nicht weichen. „Hermann Graf Arnau“ stand dort, mit verblaßter Tinte, aber mit deutlicher klarer Handschrift, stand dort auf dem alten vergilbten Papier, das lange Jahre hindurch in seinem Versteck gelegen hatte, wohin es jedenfalls bei einem allzu hastigen Oeffnen des Koffers durch eine schadhafte Stelle des innern Bezugs geglitten war. Gertrud’s Kopf schwindelte, unfähig, den Zusammenhang zu begreifen, noch halb betäubt von der vorhergegangenen Aufregung schlug sie das Blatt aus einander.

Es waren nur wenige Zeilen, die dort geschrieben standen, und sie schienen sehr flüchtig und geschäftsmäßig hingeworfen, aber ihre Wirkung auf das Mädchen war eine blitzähnliche. Sie sprang auf; das eben noch so bleiche Antlitz von einer tiefen Gluth übergossen die Augen strahlend im leidenschaftlichsten Triumph, preßte sie den Fund mit beiden Händen gegen ihre Brust, als wolle man ihn ihr entreißen, und diese Brust athmete tief, tief auf, als sei mit diesem einen Moment die Last eines ganzen Lebens von ihr gesunken.

Aber es war nur ein Moment, schon im nächsten zuckte sie zusammen, von einer Erinnerung getroffen, die wie mit Eiseshand ihr an’s Herz griff, das verhängnißvolle Blatt entsank ihren bebenden Händen, wie vernichtet starrte sie darauf hin, und dann hob sie das Auge in bitterer Anklage zum Himmel. An diesem Papier hatte einst die Ehre und das Glück einer ganzen Familie gehangen, damals ließ ein tückischer Zufall es spurlos verschwinden. Zwei Jahrzehnte waren darüber hin – zwei Menschen waren darüber zu Grunde gegangen, und jetzt gab derselbe Zufall das Verlorene wieder zurück. „O mein Gott, warum gerade in meine Hand? Und warum jetzt, gerade jetzt?“

Es kam keine Antwort von oben auf die verzweifelnde Frage, und es kam auch kein Laut weiter von den Lippen Gertrud’s, stumm kämpfte sie den Kampf aus, den schwersten ihres Lebens. Wie furchtbar er war, davon zeugten die heftig arbeitenden Züge, die krampfhaft gerungenen Hände, aber der schweigende Mund verschloß auch jetzt noch das Weh. Sie hatte geglaubt, in dieser letzten Nacht das Maß der Angst und Qual erschöpft zu haben, und doch, was war die Verzweiflung jener Stunden gegen diese Minuten! Jetzt galt es, mit eigener Hand den drohenden Streich zu führen, er traf tödtlich, das wußte sie, und diesmal stand mehr auf dem Spiele, als blos das Leben.

Nur Wenige hätten einer solchen Wahl gegenüber den Muth zum Kampfe besessen; sie wären in ohnmächtigen Thränen unterlegen oder hätten, nur der Stimme des Herzens gehorchend, sich entsetzt von der verhängnißvollen Entscheidung abgewendet. Zu ihrem Unglück war Gertrud keine von den weichen und keine von den schwachen Naturen. Eine einsame dornenvolle Jugend, die schon die bitteren Erfahrungen eines ganzen Lebens in sich schloß, hatte sie früh gestählt und ihr jene Kraft; aber auch jene Härte gegeben, von denen die Glücklichen nichts wissen. Das eiserne Gebot der Pflicht, bisher die einzige Richtschnur ihres Lebens, hieß auch jetzt wieder jede andere Stimme schweigen, und mahnend und schweigend erhob sich die Vergangenheit, die noch unvergessen im Innersten ihrer Seele schlief. Jede bittere Stunde, woran schon ihre Kindheit so reich war, jede Thräne, die sie geweint, jede Demüthigung, die sie erlitten, das Sterbebett der Mutter, das Bild des nie gekannten und doch so leidenschaftlich geliebten Vaters – Alles, Alles ward wieder lebendig, und in dem Maße, wie die Erinnerungen auf sie einstürmten, wurden die Züge des Mädchens hart und kalt, bis sie sich endlich mit finsterer Entschlossenheit erhob. Der Kampf war zu Ende; sie legte die Rechte wie zum Schwur auf das verhängnißvolle Papier.

„Die Mahnung kam zur rechten Zeit! Ich stand auf dem

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