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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Schatten stellte. Eugen schien nach der stürmischen Ueberraschung des ersten Augenblicks zur Besinnung zurückgekehrt zu sein, vielleicht fürchtete er auch die Eifersucht seiner Frau, jedenfalls wußte er sich jetzt besser zu beherrschen, als bei jenem plötzlichen Zusammentreffen, und wenn sie einander sahen, was meist nur bei Tische und immer nur in Gegenwart der Gesellschaft geschah, so war die Begegnung seinerseits ebenso fremd, als die ihrige. Und Graf Arnau? – Er hatte Wort gehalten und Gertrud keinen Anlaß gegeben, ihn noch einmal zu beleidigen. Es lag eine eiserne Consequenz in der Art, mit der er sie nach dem letzten Gespräch völlig zu ignoriren schien; nicht ein Wort, nicht ein Gruß ward ihr mehr zu Theil, auch nicht die leiseste, allergewöhnlichste Aufmerksamkeit, die man selbst Personen in so untergeordneter Stellung erweist. Für ihn schien die Erzieherin gar nicht mehr zu existiren und wenn er doch einmal mit einer kalten gezwungenen Verbeugung von ihr Notiz nehmen mußte, so geschah es mit sichtlichem Widerwillen. Freilich, das war es ja auch, was sie von Anfang an gewollt und erstrebt hatte, jetzt war es endlich erreicht, und das Alles, Alles nahm ja ohnedies ein Ende. Uebermorgen kehrte Baron Sternfeld mit Frau und Kindern auf seine Güter zurück, die Uebrigen gingen nach der Residenz, man trennte sich – hoffentlich auf Nimmerwiedersehen!

Gertrud wollte tief, tief aufathmen bei diesem Gedanken, aber es wollte nicht leichter werden auf der Brust, und die gefalteten Hände preßten sich wie im wildesten Schmerz noch fester in einander. Das Mädchen war um so vieles bleicher geworden in diesen beiden Wochen, und auch der alte Schatten lag nicht mehr in ihrem Auge, er war verwischt, tief in den Hintergrund gedrängt von einem andern Ausdruck. Es lag darin jetzt eine drängende Unruhe, eine qualvolle innere Angst, und die festgeschlossenen Lippen schienen gewaltsam ein Geheimniß festzuhalten, das sie nicht einmal sich selber aussprechen durfte. Sie nahm das Buch und versuchte zu lesen, es wollte nicht gehen, sie schlug es in der Mitte, am Ende auf, umsonst! Ihr Blick irrte über die Worte hin, ohne den Sinn zu fassen, die Gedanken ließen sich nicht bannen. Mit einer leidenschaftlichen Bewegung, die den ganzen mühsam verhaltenen Kampf ihres Innern verrieth, warf sie es endlich von sich und verbarg das Gesicht in beiden Händen.

„Gertrud!“

Die Gerufene fuhr mit dem Ausdruck des Schreckens empor. „Herr von Reinert! Sie hier?“

Es war in der That Eugen, der einige Schritte von ihr entfernt am Rande des Gebüsches stand. Auch er erschien bleich, aufgeregt, und seine Stimme bebte, als er mit niedergeschlagenen Augen leise fragte: „Darf ich – darf ich mich nahen?“

„Nein!“ war die feste, ernste Antwort.

Trotz des Verbotes wagte er es dennoch, einen Schritt näher zu treten. „Gertrud, sei nicht so unversöhnlich! Ich weiß es, daß Du mich hassest, daß ich Dich unglücklich gemacht habe –“

Mit einer Geberde unbeschreiblichen Stolzes hob Gertrud das Haupt empor, ihr Auge traf groß und voll das seinige und nicht die leiseste Spur von Erregung zitterte mehr in ihrer Stimme, wohl aber lag ein Hauch mitleidiger Verachtung darin, als sie ruhig entgegnete: „Sie sind im Irrthum, Herr von Reinert; ich hasse Sie nicht, und unglücklich bin ich durch Sie nicht geworden.“

„Nun wohl, so bin ich es jetzt!“ sagte Eugen dumpf. „Seit dem Augenblick, wo ich Dich verließ, habe ich kein Glück gekannt, immer und immer hat mich die Erinnerung verfolgt und jetzt, wo ich Dich wiedersehen mußte, jetzt treibt sie mich zur Verzweiflung!“

Er warf sich mit der alten Leidenschaftlichkeit auf den Platz nieder, wo sie vorhin gesessen, und preßte die Hand gegen die Stirn. Gertrud stand vor ihm; wer Zeuge des stummen, aber furchtbaren Kampfes gewesen wäre, der noch vor wenigen Minuten das ganze Wesen des Mädchens durchtobte, würde die Ruhe und Gelassenheit nicht begriffen haben, mit der sie jetzt auf den einstigen Verlobten niederblickte.

„Eugen!“ Er fuhr auf, sie machte eine ernst zurückweisende Bewegung. „Mißverstehe mich nicht, dies Du gilt dem Jugendgespielen, den ich nie anders genannt. Wenn es das ist, was Dich quält, der Gedanke an mein vermeintliches Unglück, an meine Verlassenheit, so sei ruhig, den Vorwurf kann ich von Dir nehmen. Wenn ich bei unserer Trennung gelitten habe, so war es nur mein Stolz, der sich wand, unter der Demüthigung, verlassen zu werden, das Herz hatte keinen Theil daran, denn ich, Eugen – ich habe Dich nie geliebt!“

„Gertrud!“

„Nie!“ wiederholte sie fest. „Du gabst mich frei, zu Deinem und meinem Heile; vielleicht hätte ich später vor Dich hintreten müssen mit dem Geständniß, daß ich Dein Weib nicht werden könne.“

„Unmöglich!“ rief Eugen aufspringend. „Wenn Du mich nicht liebtest, weshalb –“

„Weshalb ich Dir meine Hand zusagte, meinst Du?“ Ihr Auge sank zu Boden und ein sanfter trauriger Zug legte sich auf ihr Antlitz, während sie leise, aber mit einer Stimme, deren eigenthümlich schmerzlicher Laut ihm bis in’s Innerste drang, fortfuhr: „Ich war kaum der Kindheit entwachsen, ich hatte Nichts kennen gelernt, als das Krankenzimmer meiner Mutter, als Sorge, Kummer und – manches Andere, was noch schwerer zu tragen ist. Dem ersten Sonnenstrahl, der in solch’ eine Jugend fällt, wird selten der Eingang verwehrt. Du kamst damals aus der Residenz zurück, in allem Glanze Deines aufstrebenden Talentes, bewundert von der ganzen kleinen Stadt, Du lagst mir zu Füßen und schwurst mir Liebe, und ich – that, was jedes sechszehnjährige Mädchen thut, dessen Herz noch frei ist; ich träumte mich in eine Neigung hinein, die nur für den Gespielen bestand. Daß dies Gefühl nicht Liebe war, ahnte ich schon bei unserer Trennung, jetzt – jetzt weiß ich es!“

Die letzten Worte kamen fast unhörbar von ihren Lippen, aber es lag ein unendliches Wehgefühl darin. Eugen hätte sich bisher mit sichtbarer Anstrengung beherrscht, nun aber brach er in schmerzliche Bitterkeit aus. „Nein, Gertrud, das ist nicht wahr! das kann nicht sein, Du täuschest Dich und mich! Du willst einen Vorwurf von mir nehmen, und ahnst nicht, daß Du mich noch elender machst, wenn ich nicht mehr an Deine Liebe glauben darf. Wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin in diesen goldenen Fesseln, in dieser Ehe mit einer Frau, die in mir nur das Spielzeug ihrer Laune sieht, das sie in einem Augenblick vergöttert, um es im andern auf die demüthigendste Weise an seine eigene Nichtigkeit zu erinnern, wenn Du wüßtest, wie tief ich den unseligen Wahn bereue, der mich einst –“

„Laß uns das Gespräch endigen, Eugen,“ unterbrach sie ihn ernst, „es geht über die Grenzen hinaus, die Dir und mir gezogen sind. Du hast die Wahrheit von mir gehört, ich vermag Nichts daran zu ändern, jetzt lebe wohl!“

Sie wollte ihm zum Abschiede die Hand reichen, aber er achtete nicht darauf, sondern fuhr in steigender Aufregung fort: „Zu spät habe ich eingesehen, was ich einst an Dir besessen, was ich in thörichtem Wahn aufgegeben, und was ich dafür eingetauscht. Längst ist jenem Rausche der Leidenschaft die Ernüchterung gefolgt, und jetzt, wo das Schicksal Dich mir wieder entgegenführt, jetzt flammt die alte Liebe mächtig empor und reißt mich auf’s Neue zu Deinen Füßen –“

Auf’s Tiefste empört trat Gertrud einen Schritt zurück. „Sie vergessen sich, Herr von Reinert, und beleidigen mich und Ihre Gattin gleich tief durch solche Worte. Verlassen Sie mich auf der Stelle, ich will Nichts weiter hören!“

Aber selbst diese energische gebietende Sprache, die sonst nicht leicht ihre Wirkung verfehlte, verhallte machtlos einer Leidenschaft gegenüber, die Eugen über alle Grenzen der Vernunft und Besinnung hinwegriß. Er stürzte auf die Kniee nieder und wiederholte das Geständniß, in jener glühenden schwärmerischen Sprache, mit der er einst um das sechszehnjährige Mädchen geworben, die ein Jahr später auch Antonie von seinen Lippen vernommen hatte. Gertrud erwiderte diesmal kein Wort darauf, mit einem Blick unverhohlener Verachtung wendete sie sich schweigend ab und wollte gehen, aber diese Bewegung brachte ihn auf’s Aeußerste. Außer sich, sprang er auf, erfaßte ihren Arm und riß sie mit Gewalt zurück.

Mit einem Schrei der Entrüstung wollte das Mädchen sich frei machen, aber es bedurfte dessen nicht mehr. In demselben Augenblick, wo Eugen es wagte, sie anzurühren, taumelte er, von einem kraftvollen Arme fortgeschleudert, zur Seite – Graf Arnau stand zwischen ihnen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_796.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)