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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Der König wohnt nicht im Schloß, sondern in der Avenue de St. Cloud, im Präfectur- Gebäude. Graf Bismarck wohnt nicht weit davon in einem stattlichen Hause in der Rue de Provence, und vorn weht die Fahne des norddeutschen Bundes. General Moltke hat sein Bureau in der Rue neuve aufgeschlagen. Ich sehe nirgends besondere Vorsichtsmaßregeln oder verstärkte Wachen, sondern nur dieselben Schildwachen wie in Berlin. Nichts erinnert an Frankreich als die Sprache. Man könnte sich mitten im Frieden in einer preußischen Garnisonsstadt glauben. Kaiserliche Adler habe ich nirgends entdeckt. Die Diener der Mairie - untere Beamte hat man vernünftiger Weise in ihren Stellen gelassen - tragen eine dreifarbige Binde um den Arm. Französische Uniformen sieht man sehr selten, hin und wieder einen Krankenpfleger. Viele Versailler glauben ganz im Ernst, daß Frankreich preußisch werden wird. Frankreich würde sich gar nicht schlecht dabei stehen, wenn es seine Regierung für einige zwanzig Jahre an Preußen verpachtete. Da würde Ordnung in die Finanzen kommen.

Auf dem Versailler Schloß weht - warum, weiß ich eigentlich nicht - die preußische und nicht die norddeutsche Fahne. Die unteren Säle des Schlosses sind in Krankensäle verwandelt, in denen zahlreiche barmherzige Schwestern ab- und zugehen. Lügenhafte französische Blätter haben verbreitet, daß die deutschen Soldaten die Gemälde der Galerie mit Säbeln und Bajonneten zerfetzt und die Statuen zerschlagen hätten. Dergleichen haben die Franzosen allerdings in Sanssouci gethan, allein Deutsche sind nicht solche Barbaren. Die unendlich vielen Büsten und Statuen sind unverletzt und nicht einmal durch Anschreiben von Namen verunreinigt. Von einem Apoll von Belvedere im Garten fehlt ein Daumen, und an dem Bruch im Marmor erkennt man, daß der Schaden noch frisch ist; das ist aber auch der einzige, den ich entdecken konnte. Nicht ein Baum im Garten ist beschädigt; der Rasen ist geschont, die Wege sind rein erhalten und die Soldaten sind so gewissenhaft, daß sie nicht einmal eine Blume auf den Beeten abzubrechen wagen; kurz, sie betragen sich, wie sie sich in Sanssouci oder im neuen Palais in Potsdam betragen würden. Die Gemäldegalerien sind von zehn Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags geöffnet und werden von Offizieren und Soldaten sehr häufig besucht. Die französischen Aufseher sind in ihre Stellen wieder eingesetzt worden, und man merkt dem Schloß und Garten nicht an, daß es von feindlichen Truppen eingenommen ist.

- Die Uebergabe von Metz und die Gefangennahme von hundertdreiundsiebenzigtausend Mann wird hier von vielen Franzosen nicht geglaubt. Auf das Placat, welches dies Ereigniß anzeigte, hatte Jemand mit Bleistift: Blague (Aufschneiderei) geschrieben. Die Franzosen beurtheilen Jeden nach sich selbst; weil sie solche Aufschneider sind, halten sie jeden Andern dafür. Es ist ihnen gar nicht mehr möglich, die Wahrheit zu reden oder die Dinge in ihrem wahren Lichte zu sehen. Das ganze Volk ist, so zu sagen, getränkt mit Lüge und Eitelkeit.

Am Siebenundzwanzigsten Abends wurde die Uebergabe von Metz durch einen großen Zapfenstreich gefeiert. Eine Menge, meistens Soldaten, zog die breite Avenue hinunter nach der Wohnung des Königs, bei dem großes Diner gewesen war. Der König öffnete mehrmals das Fenster und wurde von dem wiederholten donnernden Hurrah der Soldaten begrüßt.

Daß der Kronprinz von Preußen und Prinz Friedrich Karl zu Marschällen ernannt sind und General Moltke zum Grafen gemacht ist, werden Sie natürlich längst wissen. Diese Auszeichnungen sind gewiß verdient. Die Menge der eisernen Kreuze, die ich sehe ist erstaunlich groß. Obwohl ich durchaus der Ansicht bin, daß fast alle Soldaten der Armee durch ihre beispiellose Tapferkeit, Ausdauer und treffliches Betragen dieses Kreuz verdient haben, so meine ich doch, man sollte etwas sparsamer mit dieser Auszeichnung sein, damit sie nicht an Werth verliert.

Neulich Abend besuchte ich einen Freund, der in dem Hause wohnt, in welchem der Bundeskanzler sein Quartier- und Bureau aufgeschlagen hat. Ich sandte meine Karte hinein. Es dauerte etwas lange, ehe mein Freund erschien und mich in ein Zimmer führte, wo wir allein waren. Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür und die imposante Gestalt des Grafen Bismarck trat ein.

Er trug seinen gewöhnlichen Uniformüberrock und das eiserne Kreuz im Knopfloch. Ich war sehr überrascht, und angenehm überrascht. Ich habe eine unüberwindliche Abneigung mich an bedeutende Männer heranzudrängen besonders an solche wie Graf Bismarck, deren Zeit viel zu kostbar ist, um sie mit unbedeutenden Personen zu verlieren. Ich habe drei Jahre in Berlin gewohnt und nie die Gelegenheit gesucht, mich dem Grafen vorzustellen so sehr ich ihn auch bewunderte. Ich sprach meine Freude unumwunden aus, erwähnend, daß ich den Grafen nur von Weitem im Reichstage gesehen habe. Er behauptete indessen, daß wir schon früher zusammengetroffen seien und er erinnere sich genau meines Namens. Ich weiß es nicht. Der Graf setzte sich und blieb eine kleine halbe Stunde. Es ist wohl natürlich, daß ich ihn mit dem allerlebhaftesten Interesse betrachtete und ihm zuhörte. Er sieht bedeutend besser aus als alle Portraits, die ich von ihm gesehen habe. Auf den meisten derselben hat er etwas Hartes und Finsteres. Davon war an jenem Abende auf seinem Gesichte keine Spur. Die Farbe desselben sieht gesund und frisch aus und seine Züge erscheinen mild und freundlich. Wie wunderbar contrastrirte sein einfaches und natürliches Wesen mit der pompösen, bureaukratischen Steifheit der sich wichtig machenden Mittelmäßigkeit!

Der Graf fragte mich, wo ich her käme. Ich mußte ihm von Straßburg und vom Elsaß erzählen. Er bemerkte, daß wir im gleichen Alter seien und wie gut ich mich erhalten habe. Ich erwiderte scherzend, daß das Recept dazu etwas langweilig sei: sechs Jahre Zellengefängniß!

Wie häufig bin ich mit hohen Beamten zusammengekommen und von ihnen halb und halb als ehemaliger Zuchthaussträfling tractirt worden! Wie anders behandelte mich Graf Bismarck! Er verstand mich durch und durch und mit einer Liebenswürdigkeit und Zartheit, von der mir auch nicht die kleinste Nuance entging, gab er mir das zu erkennen, indem er gewissermaßen eine Parallele in dem Entwickelungsgange unserer politischen Ansichten zog. Er bemerkte, daß wir Beide ungefähr unter denselben Verhältnissen und unter dem Einfluß derselben Ideen aufgezogen worden seien, und wie er sich einerseits von diesem Einfluß freigemacht habe, während andererseits Erziehung und Gewohnheit ihr Recht behaupteten.

Schon im Jahre 1832 sei die Einheit Deutschlands sein Lieblingsgedanke gewesen. Er habe sogar mit einem Amerikaner eine Wette um vierundzwanzig Flaschen Champagner gemacht, daß Deutschland nach zwanzig Jahren einig sein würde („ich hätte vierzig oder fünfzig sagen sollen,“ bemerkte er). Wer die Wette verliere, solle den Andern in seinem Lande besuchen. Der Amerikaner starb 1850 und der Graf konnte seine verlorene Wette nicht bezahlen. - Er habe immer freisinnige Ansichten gehabt und sei besonders nie ein Freund der Bureaukratie gewesen. Manche Beziehungen seiner Rede verstand ich nicht recht, da mir die Details seiner politischen Laufbahn nicht so recht bekannt sind, indem ich von 1849 bis 1855 im Gefängniß war, und von jener Zeit bis 1867 in England und Amerika lebte. Der Graf äußerte jedoch, daß man im Alter Vieles objectiver ansehe, als in der Zeit der leidenschaftlichen Jugend, und ferner, daß, von einer gewissen Höhe herab gesehen, die Parteifarben verblassen.

Das Jahr 1848 habe ihm manche Täuschungen gebracht. Die Art, wie die Soldaten von den Demokraten behandelt worden seien, habe ihn empört, und die selbstsüchtige Gemeinheit vieler Männer jener Zeit habe ihn angeeckelt. -

Der Graf sagte manches Andere, was mich höchlich interessirte und umsomehr, da er gewissermaßen aus mir heraussprach; ich verstand Alles, was er nur andeutete; indem er von seinen Empfindungen redete, analysirte er die meinigen. „Ja,“ bemerkte er, „Sie haben diese Gesinnungen in's Gefängniß und mich haben sie in die Stellung geführt, die ich jetzt einnehme.“

Der Graf bedauerte, daß Geschäfte ihn hinwegriefen, und stand auf. Er gab mir die Hand, sagte, er freue sich, meine Bekanntschaft gemacht oder vielmehr erneuert zu haben, und hoffe mich öfter zu sehen.

Ich gestehe es, ich war tief bewegt. Ein Vertreter des Jahres 1848 und der Mann des Jahres 1870 hatten sich versöhnend die Hände gereicht!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_790.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)