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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ein einseitiger zu sein, da von Victor fast täglich Briefe einliefen, während Anna ein einziges Mal nach seiner Abreise geschrieben hatte und seitdem nicht wieder. Frau Hösli war mit alledem sehr zufrieden. Doch täuschte sie sich, wenn sie hoffte, Anna werde sich in dem Maße Alfred wieder zuwenden, als sie gegen Victor zu erkalten schien. Anna vermied Alfred seit jener kurzen Unterredung bei Frank mit einer Art trotziger Scheu. Sie war befangen und abstoßend, wenn sie sich sahen, er zurückhaltend und fremd. „Es kann nie wieder werden, wie es war!“ hatte er gesagt, und er schien Recht zu haben. Die Beiden erwiesen sich eine Wohlthat, wenn sie einander die peinvolle Verlegenheit, mit der sie sich gegenüberstanden, ersparten. Anna war in letzter Zeit nicht mehr so gesund wie früher. Sie klagte über Kopfweh und wechselte oft die Farbe, besonders wenn von Alfred die Rede war. Gegen ihre Mutter blieb sie fortan verschlossen und ausweichend. Sie lief und sprang nicht mehr, sie ging langsam und ernst umher, und statt zu reiten oder zu schwimmen saß sie stundenlang bei Frank oder bei den Familien der Fabrikarbeiter, für deren kleine und große Leiden sie auf einmal ein Interesse zeigte, welches sie früher nie gehabt. Es war, als habe sie jetzt erst entdeckt, daß es Kummer in der Welt gäbe, und eine Freude darin gefunden, ihn zu lindern.

„Laß Du das Kind gehen, das Kind ist recht,“ sagte Herr Hösli immer wieder zu seiner kopfschüttelnden Frau, so oft Anna bei ihm Geld für dies oder jenes dringende Bedürfniß holte, welches sich bei ihren Schützlingen herausgestellt. Die Anna Hösli war in kurzer Zeit der Trostesengel der vielen Hundert Hösli’schen Unterthanen geworden. Nur sagen durfte man es ihr nicht, da wurde sie böse. Sie fand nichts widerwärtiger, als Menschen, die mit ihrer Gutherzigkeit coquettirten, – sie haßte auf einmal alle „Gefühlsseligkeit“ und verschwor sich hoch und theuer, sie thue Alles nur aus Pflichtgefühl, nicht aus gutem Herzen – denn sie habe kein Herz und wolle keines haben! So eignete sie sich, wie in einer unbewußten Opposition gegen ihr innerlich immer reicher sich entfaltendes Gemüthsleben, eine äußere Sprödigkeit an, die sich im persönlichen Verkehr oft in verletzender Weise zeigte. Es war jener jungfräuliche Widerstand gegen eine Gemüthsstimmung, in der sie wehrlos etwaigen gefürchteten Eindrücken preisgegeben war.

„Anna Hösli ist wunderbar verändert,“ sagte eines Tags Adelheid zu ihrem Sohne. „Wie sie die Kranken und Armen pflegt und unterstützt! Wie oberflächlich war sie früher und nun diese Umwandlung!“

„Das hat die Liebe in ihr vollbracht!“ sagte Alfred.

„Aber Victor ist doch eigentlich gar nicht der Mann, um einem jungen Mädchen eine so ernste Richtung zu geben!“ meinte Adelheid.

„Es kommt nicht darauf an, wen man liebt – sondern wie man liebt! Eine edle Natur wird immer edel in der Liebe sein; eine gemeine immer gemein! Freilich, daß eine edle Natur einen Menschen wie diesen Victor lieben kann – das bleibt ein unerklärliches Räthsel!“ fügte er bitter hinzu.

„Aber Alfred, Frau Hösli sagt ja, sie glaube gar nicht, daß Anna Victor noch liebe.“

„Das weiß ich besser, Mutter! Victor hat mir bei der Abreise noch betheuert, daß sie ein Herz und eine Seele seien und daß Anna nicht von ihm lasse, so lange sie lebe.“

Adelheid wollte weiter reden, aber Alfred brach das Gespräch rasch ab, wie immer, und fing von seinem Uebersiedelungsplane in die Heimath an.

Es gelang ihm endlich mit unsäglicher Mühe, seine Mutter zu einer Reise nach Italien zu bewegen. Er wollte sie selbst an einen passenden Ort bringen und dann in den Norden zurückkehren, um sich noch vor Ausbruch des Krieges dort einzugewöhnen, seine Güter und seinen Freund zu besuchen. Dieselbe Energie und Zähigkeit, welche er einst dem Drängen seiner ganzen norddeutschen Verwandtschaft entgegengestellt, um in Zürich zu bleiben, bot er jetzt auf, um fortzukommen. Es war ihm unmöglich, länger in Anna’s Nähe zu leben. Er war kein Werther, der an einer egoistischen Neigung zu Grunde gehen wollte. Er liebte die ganze Menschheit, und er wollte für sie leben und wirken, aber um dies zu können, durfte er seine Kraft nicht verbluten lassen an einer neu aufgerissenen Wunde. Er mußte fort, und er hatte der äußeren Gründe genug dazu. So war denn der Entschluß gefaßt zum großen Schmerz der alten Hösli’s und der ganzen Züricher Bewohnerschaft.

Die Auflösung seines Hausstandes kostete Alfred wenig Mühe. Die Einrichtung sollte erst nach seiner Abreise verkauft werden, um Adelheid jede Unbequemlichkeit zu ersparen. Herr Hösli wollte das für Alfred besorgen. Seine Bilder, Bücher und wissenschaftlichen Utensilien sandte er nach B… voraus, wo sie einer seiner Verwandten in Verwahrung nahm. Das volkswirtschaftliche Examen war vorüber, die Seuche, die seine Gegenwart nothwendig gemacht und seine Abreise verzögert hatte, unterdrückt, sein Tagewerk in Zürich war vollbracht – er konnte gehen.

Er ahnte nicht, mit welcher Liebe die Stadt an ihm hing, die er verließ. Sie häufte, wohl erkennend, was sie ihm schuldig war, Ehre um Ehre auf des Scheidenden Haupt, und es ereignete sich der unerhörte Fall, daß ein so junger Mann wie Alfred zum Ehrenbürger ernannt wurde. Ein großes Abschiedsbankett ward veranstaltet, bei welchem ihm das Diplom überreicht wurde. Alle Züricher Behörden waren versammelt, und auf den Galerien des Saales blühte ein reicher Damenflor, darunter auch Anna.

Es war das erste Mal, daß Alfred öffentlich reden mußte. „Wie wird er’s machen, der schüchterne Mensch?“ flüsterten sich die Bekannten zu. Er aber, obgleich tief bewegt, sprach fließend und sicher:

„Meine Herren und lieben Freunde! Schweren Herzens nehme ich das Bürgerrecht einer Stadt an, die ich zu verlassen im Begriff stehe. Und dennoch nehme ich es an, weil ich mir bewußt bin, daß ich – wo auch immer – mit Geist und Herzen ein echter Bürger dieser Stadt bleiben werde. Meine Herren! Wie köstlich auch das Geschenk ist, welches Sie mir in die Heimath mitgeben – noch Größeres nehme ich von hier mit, wofür ich Ihnen in dieser Abschiedsstunde meinen Dank aussprechen muß: die Achtung vor dem allgemeinen Menschenrecht und die Liebe zur Arbeit!“ –

Ein Sturm des Beifalls unterbrach ihn.

„Meine Herren,“ fuhr er fort. „Wenn Einer zurückkehrt in die Heimath, da umringen ihn die Seinen und fragen wohl: .was bringst Du uns mit?' Mein Bürgerrecht ist nur für mich, ich kann es nicht mit Anderen theilen, auch nicht den tausendfältigen Genuß, den mir der Anblick Ihrer Berge, Ihrer Seen geboten, denn ich bin kein Maler, kein Dichter, aber die beiden Errungenschaften, von denen ich eben sprach, werde ich meinen Landsleuten mitbringen, und ich denke, sie sind ein Geschenk, für das mich Tausende segnen werden, wenn sie seinen Werth erst begriffen haben. – So reich beladen kehre ich zurück, von wo ich kam, und leere feuchten Auges den letzten Becher, den dies theure Land mir credenzt. Gott segne die Schweiz, die gastliche Schweiz!“

Ein Jubel ohne Ende erhob sich auf diese einfachen Worte. Die Damen wehten mit den Tüchern von der Galerie herab. Herr Hösli umarmte Alfred, er war bleich vor innerer Aufregung, ein alter nie gestillter Schmerz brach mit erneuter Macht hervor. „Ach wäre mein Sohn gewesen wie Sie – oder wären Sie mein Sohn!“ flüsterte er ihm zu, und Alfred schloß ihn mit voller Sohnesliebe in seine Arme. „Könnte ich es sein!“ sagte er.

Da öffneten sich die Thüren und herein trat zwar noch schwankenden Schrittes, aber doch stattlich anzusehen, Frank! Er trug einen Kranz von frischen Alpenrosen in den schwarzen Händen. Zwischen den Rosen kam hin und wieder ein silbernes Lorbeerblatt zum Vorschein, das den Namen eines von Alfred’s Patienten trug. Der Kranz ward zusammengehalten durch eine massive Schleife aus getriebenem Silber, auf deren Enden Jahreszahl und Datum eingravirt waren. Frank schritt auf Alfred zu, so gut es bei seiner Schwäche ging, und sprach einfach: „Wir Alle, die Sie gerettet haben von der Seuche, danken Ihnen.“

Es war ein unbeschreiblicher Augenblick, wie der einst so athletische Mann, das Urbild aller Heldenkraft und Kühnheit, von schwerer Krankheit gebrochen, vor dem kleinen jungen Arzte stand und ihm für die Erhaltung seines und des Lebens so vieler Anderer dankte. Alfred nahm den Kranz und hielt ihn zwischen den gefalteten Händen. „Alpenrosen!“ sagte er leise mit wehmütiger Freude, „die heilige Blume Eurer Firnen! Ich habe sie mir nie pflücken können, denn ich war zu schwächlich, um die Höhen zu erreichen, wo sie wächst, und wenn sie mir dargeboten ward, freute sie mich nicht, denn ich hatte sie mir nicht mühevoll selbst errungen. Aber diese da freuen mich, weil ich doch etwas gethan habe, um sie mir zu verdienen, pflückte ich sie gleich nicht am Rande des Abgrundes! Ich danke Euch, mein Freunde – ich weiß es, ein schönerer Lorbeer kann mir nimmer blühen!“

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