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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

und Erholung jedenfalls mehr als ich, und deshalb werde ich Hermann mit mir nehmen, er stört Dich nur mit seinem Geplauder.“

Die Anordnung war in so entschiedenem Tone ausgesprochen, daß die Gräfin, welche überhaupt nicht gewohnt war, der Mutter einen Widerspruch entgegenzusetzen, keine Einwendung wagte, sie fügte sich schweigend, wenn auch mit unverhehlter Besorgniß.

Die arme Frau sollte im Laufe des Tages, der so schrecklich für sie begonnen, noch Manches erfahren, was ihr dunkel und räthselhaft blieb. Die Präsidentin ließ sich bei Tische entschuldigen, sie war noch nicht völlig wohl, verweigerte aber auf’s Entschiedenste, den Besuch des Arztes anzunehmen, und ließ dagegen ihren Schwiegersohn ersuchen, sich nach Tische auf einige Minuten zu ihr zu verfügen. Der Graf, auf’s Tiefste verstimmt durch das Ereigniß des Morgens, durch die zahllosen unangenehmen Amtsgeschäfte, die sich für ihn daraus ergaben, und überhaupt in sehr ungeduldiger reizbarer Laune, folgte sichtlich ungern dieser Einladung, um so mehr war die Gräfin erstaunt, daß er so lange bei ihrer Mutter verweilte. Ueber eine Stunde dauerte die Unterredung, von deren Inhalt sie kein Wort erfuhr, denn während der ganzen Zeit blieb die Thür, selbst das Vorzimmer geschlossen. Als Resultat dieses Gespräches aber kündigte die Präsidentin der Tochter an, daß sie schon morgen wieder abzureisen gedenke, und beabsichtige, ihren Enkel, den sie die ganze Zeit über nicht einen Moment von sich gelassen, mit nach ihren Gütern zu nehmen. Sie behauptete, die Lebhaftigkeit des Knaben störe und beunruhige die Mutter, von der man ihn eine Zeit lang trennen müsse, damit sie sich völlig ungestört von ihrer jetzigen Aufregung erholen könne. Der Graf schloß sich dieser Meinung seiner Schwiegermutter mit vollster Entschiedenheit an, Ottilie aber erschrak und sträubte sich heftig gegen diese Zumuthung. Sie wollte ihren Sohn, ihr einziges, mit krankhafter Zärtlichkeit geliebtes Kind nicht von sich lassen, sie nannte es eine grausame Fürsorge, ihr den einzigen Trost in den langen schweren Tagen der Krankheit zu rauben, umsonst – Mutter und Gatte, sonst stets zur Nachgiebigkeit gegen die Leidende geneigt, bestanden diesmal mit einer seltsamen unbegreiflichen Härte auf ihrem Willen, und die Gräfin, schwach, unselbstständig, und von jeher an die Bevormundung leider gewöhnt, mußte endlich nachgeben.

Am anderen Morgen stand in der That der Reisewagen vor der Thür. Ottilie regte sich bei dem halb erzwungenen Abschiede von ihrem Sohne bis zur äußersten Heftigkeit auf, in Thränen zerstiebend nahm sie ihn immer wieder in die Arme, aber auch jetzt verleugnete der Knabe seine eigenthümliche Natur nicht. Wohl zuckte es bisweilen wie ein unterdrücktes Weinen um den kleinen Mund, aber keine Thräne kam in seine Augen, blaß und stumm ließ er sich all’ die Liebkosungen gefallen, bis der Graf endlich ungeduldig ward und ihn aus den Armen seiner Gemahlin nahm. Er führte ihn zur Großmutter und beugte sich dann nieder, um ihm den Abschiedskuß zu geben, stieß aber hier plötzlich auf eine ganz unvermuthete, energische Weigerung des Knaben. Es lag ein unverhülltes Grauen, ja ein förmlicher Abscheu in dem jähen Zurückweichen, womit er sich der väterlichen Liebkosung entzog, und diese Bewegung entging dem Grafen keineswegs. Eine dunkelrothe Wolke stieg auf seiner Stirn empor, ohne ein Wort zu sagen, faßte er die beiden Hände des Kindes, preßte sie fest in die seinigen, und zog es so, dem Anschein nach sanft, in Wirklichkeit aber gewaltsam an sich. Diesmal widerstrebte Hermann nicht, er ließ auch keinen Laut des Schmerzes hören, obgleich der heftige Druck der väterlichen Hand ihm nothwendig wehe thun mußte, aber er biß die kleinen Zähne fest aufeinander, und sein Gesicht nahm einen solchen Ausdruck finsteren Trotzes an, daß der Vater ihn plötzlich losließ und von sich schob. Der Blick aber, der den Knaben dabei traf, war so furchtbar drohend, daß die Präsidentin unwillkürlich die Arme schützend um ihren Enkel legte.

„Adalbert!“

Er wendete sich rasch ab, der ganze Zwischenfall dauerte übrigens nur wenige Secunden und war von Keinem, außer den Betheiligten, bemerkt worden. Die Gräfin lag noch schluchzend im Sopha, und als der Diener eintrat, lächelte der Graf bereits wieder und bot seiner Schwiegermutter den Arm.

„Beruhige Dich, Ottilie! Wir übergeben Hermann ja nur den Händen seiner Großmutter, wo er sicher aufgehoben ist.“

Er legte einen eigenthümlich schweren Ton auf die an sich so harmlosen Worte, und sein Auge streifte dabei das der Präsidentin, die den Blick kalt und fest zurückgab.

„Seien Sie ohne Sorge, Adalbert,“ entgegnete sie kurz, „was ich in meine Obhut nehme, dafür pflege ich einzustehen“ –

Wenige Minuten später saßen die Reisenden im Wagen; der Graf, der sie bis hinab begleitet hatte, verbeugte sich und trat vom Schlage zurück, am Fenster oben erschien das verweinte Antlitz der Gräfin, die ihnen Lebewohl nachwinkte. Als der Wagen zum Thore hinausrollte, athmete die Präsidentin tief auf und zog ihren Enkel mit einer Heftigkeit in die Arme, als habe sie das Kind soeben einer Gefahr entrissen, dieses aber verbarg seinen Kopf an ihrer Schulter, und zum ersten Male während ihres ganzen Zusammenseins brach es in ein lautes bitterliches Weinen aus. –

Das Verbrechen und der darauf folgende Selbstmord des Rentmeisters Brand hatte begreiflicherweise die ganze kleine Residenz, wo nur selten etwas Ungewöhnliches geschah, in Aufruhr gebracht. Der Vorfall erregte um so größeres Aufsehen als der Ausspruch jenes alten Beamten dem Doctor gegenüber die allgemeine Meinung repräsentirte. Man hätte jeden Anderen eher eines solchen Verbrechens fähig gehalten, Jeden, nur Brand nicht, der überall als einer der tüchtigsten und fähigsten Beamten, als ein Muster von Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit galt. Gerade diese Eigenschaften, oder vielmehr die unnachsichtliche Strenge, mit der er die eigene Pünktlichkeit auch von Anderen verlangte, und jede noch so kleine Unregelmäßigkeit im Amte rügte, hatten ihm, zumal bei seinen Untergebenen, manchen Feind geschaffen, aber Niemand hätte es gewagt, ihm die unbedingteste Achtung zu versagen – und nun sollte dieser Mann auf einmal ein Betrüger sein! Ein Zweifel daran konnte gar nicht in Frage kommen, das eigene Geständniß und der Selbstmord des Schuldigen sprachen laut genug, wo aber die von ihm unterschlagene enorme Summe geblieben, das war und blieb ein Räthsel. Es lag überhaupt ein gewisses Dunkel auf der ganzen Sache, das nicht aufgehellt wurde und das vielleicht auch nicht aufgehellt werden konnte, weil der, der allein Auskunft darüber zu geben vermochte, sich jeder Rechenschaft entzogen hatte. Die Untersuchung förderte Nichts weiter zu Tage, als die bereits feststehenden Thatsachen. Der Rentmeister hatte allmonatlich die betreffenden Gelder aus der fürstlichen Rentencasse dem Kammerherrn und Vertrauten Seiner Durchlaucht, dem Grafen Arnau, zu übergeben; er hatte auch stets den festgesetzten Termin innegehalten, nur das letzte Mal wußte er ihn unter einem wahrscheinlich klingenden Vorwande um acht Tage hinauszuschieben. Der Graf war anfangs damit einverstanden, schöpfte jedoch Verdacht, als er durch Zufall erfuhr, daß Brand wegen „Familienangelegenheiten“ Urlaub genommen habe, und im Begriff stehe, abzureisen. Er ließ ihn, vorerst privatim, zu sich rufen, forderte eine Erklärung, drohte mit sofortiger Revision der Casse, und erlangte darauf hin das Geständniß des Schuldigen, der, jedenfalls schon auf das Aeußerste vorbereitet, sich den Tod gab, als ihm die Schonung, um die er bat, verweigert wurde.

Graf Arnau hatte sich sofort und mit aller Energie der Sache angenommen. Er legte eigenmächtig Beschlag auf die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen und unterzog dieselben einer genauen persönlichen Durchsicht, obgleich keine amtliche Eigenschaft ihn dazu berechtigte; indessen, man nahm es in der Residenz überhaupt nicht allzustreng mit den gesetzlichen Maßregeln, wenn es sich dabei um die Interessen des Fürstenhauses handelte, und ein Mann von der Stellung und dem Einfluß des Grafen durfte sich schon einige Uebergriffe erlauben; überdies fand man es sehr begreiflich, daß er seine allerdings verzeihliche Nachgiebigkeit, die die Entdeckung um mehrere Tage verzögert, und wahrscheinlich den Verlust des Geldes verursachte hatte, jetzt durch verdoppelten Eifer wieder gut zu machen suchte. Aber all dieser Eifer blieb resultatlos, weder ihm, noch der, freilich nicht mit besonderer Intelligenz begabten[WS 1] Polizei der Stadt gelang es, eine Spur der fehlenden Summe, oder auch nur den geringsten Fingerzeig dazu in den amtlichen und Privatpapieren des Rentmeisters aufzufinden, er hatte sie jedenfalls schon vorher in Sicherheit gebracht, und stand im Begriff, sich der unvermeidlichen Entdeckung durch die Flucht zu entziehen – der Urlaub, der die erste Zeit seines Verschwindens decken sollte, war bereits ertheilt, und in seiner Wohnung standen die Koffer zur Abreise gepackt – als das verdiente Schicksal ihn ereilte. Graf Arnau beschwor die von ihm gleich anfangs zu

Protocoll gegebenen Aussagen und damit hatte die Sache ihr

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bebegabten
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_743.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)