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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 45. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften 5 Ngr.


Hermann.
Novelle von C. Werner.

„Aber Doctor, sagen Sie doch ums Himmelswillen, was ist eigentlich an der Sache?“

„Die ganze Stadt spricht bereits davon, und wir wissen noch immer nichts Bestimmtes!“

„Doctor, ich bitte Sie; es ist ja unmöglich, es kann ja nicht sein!“

Der, an den alle diese Fragen und Ausrufungen gerichtet waren, stieß ärgerlich seinen Stock gegen den Fußboden und erwiderte in ziemlich trockenem Tone: „Was Sie für möglich oder nicht möglich halten, meine Herren, weiß ich nicht; das Factum ist, daß in der Casse die Summe von zwanzigtausend Thalern fehlt und daß der Rentmeister Brand sich heute Morgen erschossen hat. Suchen Sie sich selbst den Zusammenhang zwischen den beiden Thatsachen.“

Die sämmtlichen Beamten des fürstlichen Rentamtes umstanden mit bleichen entsetzten Gesichtern den ersten Arzt der Stadt, aus dessen Munde sie soeben die Bestätigung eines Gerüchtes erhielten, das bereits seit mehreren Stunden die ganze kleine Residenz in Aufregung brachte.

„Also wirklich? Und man sagt, das Unglück sei in der Wohnung des Grafen Arnau geschehen!“

„In seinem Arbeitszimmer! Der Graf hegte schon seit mehreren Tagen Verdacht gegen den Rentmeister und ließ ihn heute Morgen deshalb zu sich rufen. Er stellte ihn zur Rede und sagte ihm schließlich das Verbrechen auf den Kopf zu. Brand wollte anfangs leugnen, gestand aber endlich und bat um Schonung, die ihm natürlich nicht gewährt werden konnte; als der Graf nach der Klingel greift, um ihn verhaften zu lassen, zieht er ein Pistol hervor und erschießt sich vor den Augen Seiner Excellenz.“

„Wissen Sie den Hergang durch Seine Excellenz selbst?“ fragte einer von den älteren Beamten.

„Aus seinem eigenen Munde.“

„So?“

„Wie meinen Sie?“ fragte der Arzt, verwundert über den eigenthümlichen Ton dieses „So?“

„O, nichts! Ich kann nur den Gedanken nicht fassen. daß der Rentmeister ein Betrüger sein soll. Brand, der Pünktlichste, Gewissenhafteste von Allen, der nicht die kleinste Unregelmäßigkeit im Amte geduldet hätte –“

„Sie sehen, wie der Schein trügt. Gerade diese so sehr zur Schau getragene Gewissenhaftigkeit mußte den Deckmantel für seine Schurkerei abgeben.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Und dennoch – es kann nicht sein. Ich hätte jeden Andern eher dessen fähig gehalten, jeden, nur Brand nicht! Ist es denn sicher erwiesen, daß –“

Der Doctor machte eine ungeduldige Bewegung. „Mein lieber Weiß, ich bin kein Criminalbeamter. Die Untersuchung wird jedenfalls das Nähere ergeben; vorläufig hat man die sämmtlichen Papiere des Verstorbenen, hier wie in seiner Wohnung, mit Beschlag belegt, und Graf Arnau hat, wie ich höre, persönlich die Durchsicht übernommen – aber meine Zeit ist gemessen, ich muß zu der Gräfin.“

„Mein Gott, die arme Frau!“ mischte sich einer der anderen Herren in’s Gespräch. „Wie geht es ihr?“

Der Arzt zuckte mit ernster Miene die Achseln „Schlecht! wie das leider nicht anders zu erwarten stand. Solch ein Vorfall im eigenen Hause kann schon Gesunde krank machen, und wenn man sich im vorletzten Stadium der Schwindsucht befindet und sorgfältig vor jeder Aufregung gehütet werden muß, kann er den Tod geben. Ich muß jedenfalls noch einmal nach ihr sehen. Adieu, meine Herren!“

Er nahm Hut und Stock und verließ mit kurzem Gruße das Bureau des Rentamtes, wo die Unterredung stattgefunden, um sich nach dem Hause des Kammerherrn Grafen Arnau zu begeben, das in unmittelbarer Nähe des fürstlichen Schlosses lag.

Im Salon der großen, prachtvoll eingerichteten Wohnung befanden sich zwei Damen, die Gemahlin des Grafen und ihre Mutter, die verwittwete Präsidentin von Sternfeld, welche von ihren in der Nähe gelegenen Gütern zum Besuch der Tochter in die Stadt gekommen und erst vor einer Viertelstunde eingetroffen war. Beim ersten Anblick hätte wohl Niemand die beiden Frauen für Mutter und Tochter gehalten, denn es herrschte auch nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen ihnen. Die Präsidentin war eine Frau von etwa fünfzig Jahren, eine nicht allzu große, aber kräftige Gestalt, mit Zügen, die wohl niemals schön gewesen, aber noch jetzt bedeutend waren durch einen hervorstechenden Ausdruck von Energie und Festigkeit. Es lag wenig Anziehendes und vor allen Dingen wenig Weibliches in diesem scharf und fest gezeichneten Antlitz, und ihm entsprach das ganze Auftreten. Haltung, Sprache, Alles war kurz, entschieden und befehlend wie bei Jemandem, der in seiner Umgebung an unbedingtes Herrschen gewöhnt ist. Die Gräfin dagegen war eine junge, noch immer schöne Frau, obgleich ihr Aeußeres nur zu deutlich die verheerenden Spuren eines schweren körperlichen Leidens verrieth. Die zarte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_741.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)