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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


mit diesen interessanten Menschengewächsen nicht aufwarten kann. Die in Spandau in Haft gehaltenen Turcos und Consorten sind wohlweislich nicht mit aufgenommen in das Zeltlager; sie sitzen in festerem Gewahrsam in der Citadelle, in welche keinem Unberufenen der Zutritt gestattet wird. Jener Turcosofficier, dessen ich gedachte, war das einzige Exemplar seiner Gattung, welches mir vor Augen kam. Beim endlichen Rückweg nach dem Bahnhof nahm ich in einem in der Nähe desselben gelegenen eleganten Restaurant noch einen Abendimbiß zu mir, und hier, im Billardsaale des Locals, stand, wie schon berichtet, die malerische Figur und führte ihre Queue, unbekümmert um die umringende wildfremde Gafferwelt, mit so unerschütterlichem Gleichmuth, als bewege er sich nicht in Cantien’Kaffeehaus zu Spandau, sondern im Café Impérial auf der Place Bugeaud in Algier. Sein Widerpart war ein anderer Officier, doch in Civil, und auch er ließ dann und wann seinen Blick mit so souveräner Verachtung über das Publicum gleiten, als habe er die Deutschen bei Sedan vernichtet und König Wilhelm gefangen genommen.

H.S.


Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Fünfter Brief. Im Schlosse von Corny.

Das Schloß von Corny ist ein Aufenthalt, den man sich in Friedens-, geschweige denn in Kriegszeiten wohl gefallen lassen kann. Das Dorf Corny, an dessen nordwestlicher Spitze es liegt, bildet den Mittelpunkt des herrlichen, weiten Thales der Mosel von Pont à Mousson bis Metz. Die Höhenzüge, die den Windungen der Mosel nachgehen wie schwärmerische Jünglinge einer etwas capriciösen Schönen, sind meist mit Rebenpflanzungen bedeckt; wenn nun zwar Trauben und Wein köstliche Dinge für den Gaumen, so sind sie das doch nicht immer für das Auge, hier aber triefen die Hügel nicht nur von dem dunkelrothen Safte, sondern auch der Blick wird unwiderstehlich von dem Reize gefesselt, den die Landschaft überall hin entfaltet. Weiche, sanfte Contouren, die langgezogene Hügelkette hier und da durch eine Thalschlucht, durch eine einzelstehende Bergkuppe unterbrochen, neben dem Rebengrün dunkleres Waldcolorit, auch einzelne kahle rothe Erdstellen. Auf den Bergen zerklüftetes Gemäuer; an die Hügel sich anlehnend, bald höher, bald tiefer, zahlreiche Dörfer mit den schlanken Kirchthurmspitzen über den hellen, an romanische Bauart erinnernden Häusern, aus einer dichten Baumgruppe hier und da das rothe Dach einer Ferme oder das glänzende Zinkdach eines Schlosses hervorschauend wie zwischen einer Hecke hindurch Kindergesichter, die sich vor den Preußen fürchten – am Fuße dieser Höhen zwei mit Pappeln eingefaßte Heerstraßen, eine Eisenbahnstraße und die im blauen Aether sich spiegelnde Mosel, und das Alles beglänzt vom Sonnenschein, überhaupt von dem Farbenduft dieser wonnigen Septembertage. Fürwahr, es wäre ein köstliches Friedensbild, wenn dort oben von der vorspringenden Höhe herab nicht ein röthlicher massiger Bau sich so recht brutal vor die Landschaft und das geschwellte Herz legte – das westliche Bollwerk von Metz, das Fort St. Quentin.

Von dort oben sieht Marschall Bazaine verzweifelt in das Moselthal herab und von diesem und dem Schlosse Corny Prinz Friedrich Karl erwartungsvoll hinauf.

Das Schloß von Corny ist ein Bau aus der Marquisinnenzeit, aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts. Die Front besteht aus einem einstöckigen Mittelbaue mit einer doppelten in den Park führenden Freitreppe, an diesen schließen sich links und rechts Seitenflügel an, die sich vom Mittelbau sowohl durch die veränderte Symmetrie der Fensterstellung, als die um mehrere Fuß sich abstufende Höhe abheben. Diese Langseite des Schlosses liegt nach einem großen englischen Park hinaus. Gewaltige Baumgruppen begrenzen einen grünen Plan, einen sogenannten Pleasure-ground, der sich unmittelbar vor dem Schlosse ausbreitet, und lassen geradeaus einen Durchblick auf die Mosel und rechts thalaufwärts nach dem Fort St. Quentin frei. Rückwärts ist an den Mittelbau des Schlosses ein weiterer Flügel angebaut; jedenfalls ist dieser neuer als der eben beschriebene, nach dem Park hin gelegene Theil; er theilt die nach dem Dorfe hin gewendete Partie in zwei große Höfe; der eine stellt durch ein einfaches Portal die Verbindung mit dem Dorfe Corny her, die andere ist durch zwei halbrunde Vorbaue flankirt, die in ihren Endpunkten ein Eingangsthor bilden, durch welches eine ziemlich lange prachtvolle Allee entlang die Anfahrt zu dem Schlosse von der Straße her geschieht.

Von diesem Hofe aus führen zwei Eingänge in den Querflügel; zwischen beiden liegt der Speisesaal mit einem balconartigen Ausbau, der unmittelbar auf die Allee schaut.

Es ist Morgen; die Nebel des Herbstes sind gewichen und durch das dichte Laubdach der großen Allee fallen einzelne Sonnenlichter. An dem Eingangsthore von der Allee her stehen die Schildwachen in Schilderhäusern, die aus rohen Brettern für das augenblickliche Bedürfniß schnell zusammengefügt sind. Die weiße Achselklappe zeigt in rothen Litzen den Namenszug König Friedrich Wilhelm’s des Vierten mit der Krone, unter den Buchstaben die Nummer Zwei; die Leute sind von dem Grenadierregimente König Friedrich Wilhelm’s des Vierten, das in Stettin in Garnison steht. Die Soldaten sind Pommern; sie gehören, das sieht man an der Säbeltroddel, zum zweiten Bataillon und haben gegenwärtig die Ehrenwache des Hauptquartiers. Der Morgen ist frisch, aber die Ablösung wird ihnen bald den Genuß eines warmen Kaffees gönnen, den die Cameraden dort an der Mauer eben zubereiten. Inzwischen blickt der Eine nachdenkend hinüber zu den Zelten, die einige hundert Schritte von ihm auf einem freien, von den hohen Baumgruppen geschützten Platze errichtet sind. Es sind die Krankenzelte und aus einem derselben hörte er – er stand bereits Nachts von elf bis Morgens ein Uhr auf demselben Posten – eine laute von Fieberschauern erregte Stimme unaufhörlich durch die nur vom Rauschen der Baumwipfel bewegte mitternächtige Ruhe die Worte rufen, unaufhörlich und immer lauter und herzerschütternder: „Malchen, komm’ und hilf – hilf!“

Aus einem der Zelte tritt eine hohe Frauengestalt im Nonnengewand; der schwarze Schleier bewegt sich im frischen Morgenwinde und das braune Ordensgewand der Franziskanerinnen umschließt ihren Leib als ein hoher Beruf und eine schwere Pflicht; sie schreitet ernst und nachdenkend über den thaubenetzten Rasen. Der Posten kennt die Nonne; Nachts war sie ihm schon erschienen, denselben Weg aus den Zelten kommend; ein Soldat mit der beweglichen Phantasie des Südens hätte im ersten Augenblick der Ueberraschung und des Grauens vielleicht an Gespenster geglaubt, aber die Leute da oben von der Ostsee haben wenig Anlage zum Gespenstersehen; er rief herzhaft sein „Wer da?“ und bekam zur Antwort: „Eine Magd der Barmherzigkeit und der Kranken, die dort in den Zelten liegen. Drüben in dem zweiten Hofe liegt unsere Küche und was wir sonst zur Pflege unserer Kranken brauchen. Ich werde wohl noch öfter passiren müssen. Erschrecken Sie darum nicht!“

„I, wo werd’ ich denn! Ein Soldat darf vor nichts erschrecken, am wenigsten vor einem Frauenzimmer und am allerwenigsten vor einem solchen, wie Sie es sind.“

Und jetzt am Morgen, da er sie wieder vor sich sieht und ihr beim grauenden Licht des Tages in das bleiche Antlitz sehen und sie erkennen kann, ist es, wie wenn er nur die Rede von heute Nacht fortsetze, da er zu ihr sagt:

„Sie sind gar kein weibliches Wesen mehr – Sie sind ein Engel, Schwester Aloysia!“

„Sie kennen mich?“

„Warum sollt’ ich denn nicht? Aber kennen Sie mich denn nicht mehr? Ich bin ja derjenige, den Sie im Jahre 1866 im Lazareth von Brünn gepflegt haben und der im ‚Diluvium‘ von dem Wundfieber immer gerufen hat: ‚Haut ihm die Jacke voll‘, gerade wie der da drüben immer nach seinem Malchen gerufen hat. Ach, Schwester, ich hab’ auch so ein Malchen, aber sie heißt Bertha, und ich hab’ so denken müssen, wenn du nun da drüben so lägst und riefst immer nach ihr und sie könnt’ es nicht hören, und näht’ an ihrem Leinenzeug im Vertrauen zu dir weiter, bis die gedruckte Todtenliste oder der Brief käme: Wilhelm ist bei den Franzosen begraben. Ne, Schwester, nicht um fünfzig Thaler möcht’ ich Bertha’n das Herzleid anthun –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_722.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2019)