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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Uebrigen, vor denen er sich durch ein auffallend intelligentes Gesicht und eine sorgfältiger gepflegte Toilette vortheilhaft auszeichnete. Ich ging auf ihn zu, bot ihm eine Cigarre und kam bald mit ihm in’s Gespräch. Es war ein Marinesoldat.

„Alle, wie wir jetzt hier, sind wir bei Sedan gefangen genommen worden,“ erzählte er mir, indem er zugleich die einzelnen Uniformabzeichem erklärte; „der Schwarze dort mit den Beilen auf dem Aermel ist ein Pionnier. Das eingestickte Horn darunter zeigt an, daß er zu den besten Schützen gehört. Er ist dicht an der spanischen Grenze zu Hause, ich bin aus der Niedercharente, unweit Nantes,“ fügte er auf meine diesfällige Frage hinzu. „Wir dienen jetzt Alle nur fünf Jahre; darum sehen Sie fast lauter junge Leute unter uns.“

Inzwischen war die Schaar um mich herum immer größer geworden. „Aber, voyez-vous“ nahm der Soldat wieder das Wort, „wir sind sammt und sonders verrathen und verkauft, schmachvoll verrathen und verkauft worden – honteusement trahis et vendus – sonst wären wir nicht hier. Denn der französische Soldat ist der beste der Welt, und wenn die Prussiens nicht immer vier gegen einen über uns hergefallen wären, dann hätten wir sie jedes Mal geschlagen, mehr, wir hätten sie vernichtet – écrasé. Im Bajonnetgefechte thut’s uns Niemand gleich.“

So flunkerte er – allein das ist wohl nicht der rechte Ausdruck, denn Dank den ewigen hochstelzigen Tiraden in den öffentlichen Blättern und den Aufstachelungen seiner Officiere, der Mensch war offenbar von der Wahrheit seiner Behauptungen überzeugt. Der Hochmuth steckt dem Franzosen so tief eingewurzelt im Blute, daß er auch in seiner tiefsten Erniedrigung noch das große Wort im Munde führt, von keinem Schicksalsschlage zur Bescheidenheit bekehrt. Die funkelnden Augen und das Gemurmel der Umstehenden bekundeten deutlich genug, daß der Bursche nur die allgemeine Ansicht ausgesprochen hatte.

Ich gab mir Mühe, ihn zu widerlegen, wies ihn namentlich darauf hin, daß gerade dem deutschen Bajonnetangriffe keine einzige französische Truppenabtheilung habe Stand halten können; daß die numerischen Verhältnisse beider Heere andere gewesen seien, als er sich einbilde, ja daß bei mehreren der entscheidendsten Actionen die Franzosen sich in namhafter Ueberzahl befunden hätten – meine Worte waren völlig in den Wind gesprochen. „On nous a vendus!“ (man hat uns verkauft) – dabei blieb er. Als ich ihm vollends mittheilte, daß am Abend vorher Straßburg capitulirt habe, daß Paris von den deutschen Heeren vollständig umgeben und das Hauptquartier des Kronprinzen von Preußen bereits in Versailles aufgeschlagen sei; daß das sechszehnte und siebenundzwanzigste französische Regiment sammt den Zuaven beim ersten Einschlagen einer feindlichen Granate Kehrt gemacht und in toller Flucht von Chatillon sich bis mitten nach Paris gerettet hätte – da schüttelte der gesammte Haufen in höchstem Unglauben den Kopf und schleuderte mir wüthende Blicke zu. „Impossible, impossible, Monsieur!“ (unmöglich, mein Herr!) erwiderten zwanzig Stimmen zugleich. „Um Paris zu cerniren, dazu braucht man zwei Millionen Soldaten und einnehmen können es die Prussiens nun und nimmermehr.“

So prahlten diese Franzosen noch in der Gefangenschaft und einem Preußen gegenüber! Das Tollste von Allem aber war, daß der Gesell' sich nicht von der Idee abbringen ließ, die Prussiens – von den Deutschen schien er gar nichts zu wissen – hätten über hunderttausend Mann an Gefangenen verloren! Nur ein einziger aus der Gesellschaft, ein hochgewachsener Artillerist aus Bordeaux, wie er mir sagte, schien eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt zu haben. Wenigstes schnitt er die dünkelhaften Herzensergießungen seiner Cameraden einige Male ab mit einem derben: „Qu'est-ce que vous chantez-là!“ (Was redet Ihr da für dummes Zeug!)

Ein Trommelsignal erschallte. „Wir müssen zum Appell,“ erläuterte man, und trotz unserer unvereinbaren Meinungsdifferenzen verabschiedeten sich Lanciers, Pionniere, Artilleristen, Chasseurs de Vincennes und Chasseurs d'Afrique mit einem höflichen „Au plaisir, Monsieur.“ (Amüsiren Sie sich gut.)

Ich wandte mich nun der aus drei Zeltreihen bestehenden eigentlichen Lagerstadt zu. Die Zelte sind gleichfalls eine den Franzosen abgenommene Beute, trichterförmig, aus einem festen grauen Segeltuch gefertigt und von einer schwarzen Spitze überragt. Jedes bietet für sechszehn Insassen Raum, welche sich darin, die Füße nach innen gekehrt, im Kreise umher auf Stroh und unter wollene Decken zur Nachtruhe ausstrecken. Merkwürdiger Weise fand ich kaum ein Zelt, dem nicht ein deutsch redender Elsasser oder Lothringer angehörte, und besonders die ersteren wiesen den ausgesprochensten germanischen Habitus auf. Ihre Gesichter waren voll und rund, ihr Körperbau gedrungener und markiger, ihre Hände und Füße größer und plumper als die ihrer Zeltgenossen keltisch-romanischen Ursprungs. Sie sprachen das breiteste Allemannisch-Deutsch, das man nur hören kann. In gewissen Zwischenräumen stehen kleinere Zelte und zeltartig geformte Strohhütten vertheilt. „Pour eux,“ (für die dort) meinten meine Franzosen, womit sie ausdrücken wollten, es seien dies die Zelte und Schilderhäuser für ihre preußischen Wachen.

Am obern Ende des Lagers stößt man auf eine zweite Wirthschaft, und weiter westlich auf drei umfängliche Stein- und Bretterbauten, die Küche für die unfreiwilligen Einwanderer. Meine Karte gestattete mir, auch darin mich umzuschauen. Eben war man mit der Zubereitung der Abendkost beschäftigt. Preußische Soldatenköche leiten die Küchenabtheilung, während Gefangene ihnen als Helfer und Unterköche zur Hand gehen. Selbstverständlich zeigt die Speisekarte nicht viele Abwechslungen, es ist einen Tag so ziemlich dasselbe wie den andern; alle Gefangenen jedoch, bei denen ich mich erkundigte, wie sie mit der täglichen Diät zufrieden seien, hatten gegen die ihnen werdende Verpflegung nichts Erhebliches einzuwenden, was sicher das beste Zeugniß für dieselbe ist, da die Herren Franzosen bei und an uns deutschen Barbaren Alles und Jedes zu bemäkeln finden. Zum Frühstück giebt es – wie ich jedoch höre, nicht alle Tage – Kaffee mit Zucker, Mittags Fleischsuppe und Gemüse, Sonntags auch ein Stück Rindfleisch, Abends geschmalzte Erbsen und Kartoffeln oder Bohnen und Kartoffeln. Welche Ausdehnung diese Küchen besitzen, wird man daraus entnehmen, daß die erste über dreizehnhundert, die zweite mehr als fünfzehnhundert und die dritte nahezu die gleiche Anzahl von Gefangenen zu speisen hat. Mithin würde sich vorläufig die Gesammtziffer der bei Spandau campirenden Franzosen auf viertausend und einige hundert belaufen; doch werden noch immer neue Ankömmlinge erwartet, – wie ich erfuhr, ein Theil der am 27. dieses Monats in Straßburg gemachten fernerweitigen siebenzehntausend Kriegsgefangenen. Daß man auch verschiedene Brunnen zur nöthigen Reinigung, desgleichen die unentbehrlichen sonstigen Bequemlichkeiten hergerichtet hat, bedarf keiner Erwähnung, und so würde die Organisation des Ganzen wenig zu wünschen übrig lassen, vorausgesetzt, daß die jetzige milde Herbstwitterung noch einige Zeit andauert. Bei rauherem Wetter hingegen dürften die Leinwandhäuser kein sattsam schützendes Obdach gewähren. Nun, hoffen wir, daß bis dahin der Friede geschlossen ist, ein Friede auf die von uns Allen erstrebten Bedingungen hin, und daß dann alle die aufgezwungenen Gäste, deren Menge uns bereits ernstlich zur Last fällt, zu ihrem heimischen Herde zurückkehren können!

Der Appell war vorüber – man nimmt diesen Zusammenruf täglich mehrere Male vor, um, was mich sehr nothwendig dünkt, bei den Franzosen das Bewußtsein der Gefangenschaft nicht abhanden kommen, sie fühlen zu lassen, daß sie Tag und Nacht unter unausgesetzter Controle stehen –, und von Neuem füllte sich das weite Blachfeld mit bunten Gestalten und Gruppen. Ab und zu ein paar Worte mit den mir Begegnenden wechselnd, die mir abermals bestätigten, daß die Franzosen unverbesserlich sind in ihrer Eitelkeit und Selbstüberhebung, auch in der Kriegsgefangenschaft nichts lernend und nichts vergessend, schlenderte ich an den Soldaten vorüber und ward Zeuge von allerhand ergötzlichen und fremdartigen Scenen. Hier hatte sich ein Hufschmied - maréchal nennt ihn der Franzose –, ein wildaussehender Kerl mit olivenfarbigem Gesicht und rabenschwarzem Haar, mit einer Clarinette postirt, der er eine Art von Quadrillenmusik erpreßte, und mit Blitzesschnelle ordnete sich eine Soldatenschaar um ihn herum und ließ einen tollen Cancan von Stapel, wie man ihn in Paris nur im Prade zu sehen bekommt. Die Beweglichkeit der Gesellen war in der That bewundernswerth, ihr Gebahren aber, das Schleudern der Beine, das Schieben und Schaukeln mit den Leibern, die Mienen und Gesten, in hohem Grade widrig, frech und obscön durch und durch.

Hier und da traf ich auch wohl einen einsamen Wanderer, welcher, wie von Heimweh verzehrt und überwältigt von Gram,

müden Schrittes dahin zog. Allein Begegnungen dieser Art waren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_719.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)