Seite:Die Gartenlaube (1870) 718.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

den Elsaß zurückfordert. Es hieße den Elsaß gewinnen, wenn das deutsche Volk, wenn die deutschen Fürsten und Staatsmänner sich sagten: „Wir übernehmen die Vater- und Bruderpflicht, das neue Festkleid des heimkehrenden verlorenen Sohnes herbeizuschaffen!“ -

Als wir in Müllheim den Wagen verließen, galt unsere erste Frage dem unglücklichen Adjutanten von Belfort. Der Krieg hat seine Nothwendigkeiten, aber diese Nothwendigkeiten sind meist entsetzlich. Der Gefangene hatte – sein Examen ganz vorzüglich bestanden und war summa cum laude als Doctor medicinae entlassen worden. Im Hauptquartier angelangt, hatte er kaltes Blut genug gewonnen, um ruhig seinen Doctor der Medicin zu vertheidigen. Jetzt flößte seine Ruhe Vertrauen ein. Der Commandirende ließ den Regimentsarzt kommen, und durch diesen den Gefangenen in Wahrheit – examiniren. Und da stellte sich bald heraus, daß der Gefangene in der That ein gelehrter Doctor medicinae war. Er durfte weiter reisen. Ob nun der Adjutant von Belfort wirklich im Zuge war? Dann dankt er seine Rettung dem Umstande, daß er – rothes Haar hatte, denn nur des rothen Haares willen hatte man den Doctor verhaftet.

Wie diese kleine Geschichte den Prolog, so mag sie auch den Epilog zu unserer Reise nach Straßburg bilden.

Ende gut, Alles gut! Möge das Ende auch gut für den Elsaß, für Straßburg, für Deutschland – und warum nicht auch für Frankreich ausfallen!

Es war das arme Frankreich, so edel und ritterlich sonst, furchtbar verkommen. Mögen die harten Schläge, die es getroffen, es bessern und bessere Tage ihm zuführen, in denen es mit Ruhe und ohne Schmerz die Heimkehr des lange verlorenen Sohnes deutscher Familie in sein Vaterhaus mit ansehen kann! –

Trügen diese Zeilen zu diesem Ergebniß, zum Verständniß und zur Erkenntniß der naturbegründeten Verhältnisse, welche die Frage[WS 1] des Elsasses beherrschen, auch nur ein Geringes mit bei, dann wäre der Lohn Dessen, der sie geschrieben, groß genug.




Bei den Gefangenen von Sedan.

Sie zählen nach vielen Tausenden, die guten Berliner, welche Tag für Tag mit Hülfe kaum zu zählender Fiacres, Droschken, Carossen, Omnibus und Eisenbahnwaggons nach dem benachbarten Spandau fahren, dort die Franzosen und das Franzosenlager zu sehen. Dieser Völkerwanderung schloß ich mich – nicht ohne Mühe, denn ich mußte mir mein Billet vor dem Schalter förmlich erkämpfen – unlängst an und folgte, in der weitbekannten Festungsstadt angekommen, dem ungeheuern Menschenstrom, welcher sich vom Bahnhofe nach der Stadt, über die Wallgrabenbrücken, durch die Festungsthore und Außenwerke ergoß; alle die Reiter, die Kutscher und Kaleschen, zwischen deren dichter Zeile man sich durchwinden mußte – Alle hatten das gleiche Ziel im Auge: „Zu den Franzosen!“

Schon von Weitem kündigten sich die Rothhosen an. Zu verschiedenen Malen passirten wir kleinere Trupps von Kriegsgefangenen, die, von stämmigen ostpreußischen Landwehrmännern bewacht, zur Erledigung irgend eines Geschäfts, eines Einkaufs oder dergleichen, nach der Stadt geleitet wurden. Sammt und sonders sahen sie ziemlich abgerissen und schmutzig, doch nichts weniger als mißvergnügt aus. Sie schwatzten lebhaft miteinander und erwiderten den ihnen da und dort gesandten Gruß, wie es schien, in der vortrefflichsten Laune von der Welt.

Plötzlich staute sich der Menschenstrom. „Ein Turco! Ein Turco!“ schrie es aus unserer Vorhut, und neugierig drängte sich die Menge hinter einer fezbekleideten Gestalt in Blau zusammen, die ohne das Getümmel um sich her nur eines Blickes zu würdigen, stolz die Gasse herabschritt. Es war ein Officier, ein noch ziemlich junger Mann mit feinen Zügen und prächtigem blauschwarzen Vollbart. Gleich allen seinen gefangenen Cameraden hatte er in der Stadt selbst sich Quartier suchen dürfen und konnte auf Ehrenwort frei umhergehen. Am Abende traf ich ihn in einem Kaffeehause wieder, wo er mit orientalischer Ruhe Billard spielte, völlig apathisch gegen das Spalier von Schaulustigen, das sich an den Wänden des Saales aufgepflanzt hatte und von dem Löwen des Tages kein Auge verwandte. Ob sich der Mann in seiner reichgestickten pittoresken Uniform zu sehr gefiel, um sich von ihr zu trennen, oder ob es ihm an Mitteln fehlte, sich mit Civilkleidern zu versehen – er machte eine Ausnahme von den übrigen Officieren, die sich durchgängig nur im bürgerlichen Rocke zeigen.

„Da sind sie! da sind sie!“ hörte ich endlich rufen. Ich blickte nach der angedeuteten Richtung hin, allein ich sah vor der Hand nichts als ein schwarzes Chaos von Menschen- und Pferdeköpfen, über dem ein paar große schwarzweiße Fahnen flatterten und eine dicke Rauchwolke qualmte. Erst nach einigen weiteren Minuten unterschied ich die einzelnen Zeltspitzen. Wir näherten uns dem Lager, welches etwa zwanzig Minuten von der Stadt sich zur Rechten der nach Potsdam führenden Chaussee ausbreitet, ringsum, in weitem Umkreise, von Wald gesäumt. Eine über kleine Pfähle gezogene Schnur, innerhalb deren von dreißig zu dreißig Schritt die Mannschaften des vierten ostpreußischen Landwehrregiments Nr. 5 Wacht halten, umschließt die Fläche und gebietet Jedwedem Halt, der sich nicht mit der erforderlichen Eintrittskarte versehen hat. Ich hatte mir durch einen Freund von der Commandantur in Spandau einen solchen nicht leicht zu erlangenden Paß auswirken lassen, und konnte nun, von meinen kartenlosen Reisegefährten mit neidischen Blicken verfolgt, unbehindert die Schranke überschreiten oder vielmehr unter ihr durchkriechen und das Heiligste und Allerheiligste des Raumes ganz nach Gutdünken erforschen. Aber auch, wer das nicht durfte, fand doch sattsame Gelegenheit, sich die französische Soldateska aus der Nähe und mit Muße zu beschauen. Am Nordrande, zum Theil noch innerhalb der Schnur, gerade da, wo man an der Stadt ankommt, steht eine der Marketenderwirthschaften, und vor ihrem Schenktische wird es nicht leer von Franzosen, die sich, soweit sie über ein paar Groschen oder Centimes verfügen, unser deutsches Bier vortrefflich munden lassen. Und wer die nöthigen Baarschaften nicht sein eigen nennt, für den sorgt das neugierige Publicum mit freigebiger Hand, so daß der daneben postirte preußische Unterofficier seine schwere Noth hat, das Gewühl einigermaßen in Schranken zu halten. Der Mensch war schon ganz heiser von seinem ewigen Commando „die Gefangenen zurück!“, dem hin und wieder ein Kolbenstoß den nöthigen Nachdruck verleihen mußte; blieb aber das Büffet auf eine Secunde einmal leidlich frei, im nächsten Momente wurde es wieder von Massen neuer durstiger Roth- und Blaukäppis belagert.

Da sah man nun gleich das bunteste Untereinander von Uniformen zusammen: die Krapphosen der Linie, die rothgestreiften Blauhosen der Artillerie, die gelbbordirten Hosen der Jäger, grünjäckige Husaren, Marinesoldaten mit dem Anker auf Schultern und Aermeln, Chasseurs d’Afrique mit von kleinen Knöpfen übersäeten Wämmsern, Lanciers – diese sämmtlichen Uniformen konnte man studiren, wenigstens insofern als hauptsächlich die Hosen in Frage kamen. Ihrer Röcke – die Sonne brannte fast juliheiß herab – hatte sich die Mehrzahl entledigt und wandelte in blauen, rothen, grauen, gelben Woll- und Baumwollhemden umher. Nur die Decorirten unter ihnen, mit Medaillen für die Feldzüge in Italien und Mexico, trugen ihre Jacken wenigstens über den Rücken gehangen, um uns ihre kriegerischen Verdienste in’s gehörige Licht zu stellen.

Der Eindruck, welchen mir der französische Soldat überall gemacht, wo ich mit ihm in Berührung kam, in Straßburg, in Paris, in einigen kleinen Jurafestungen an der Schweizer Grenze, der Eindruck einer mit Leichtfertigkeit und Liederlichkeit gepaarten cynischen Rohheit und Unreinlichkeit – er wiederholte sich mir auch hier im Spandauer Zeltlager.

Kaum war ich eingetreten in den Kreis desselben, so fand ich mich sofort von einer Schaar Franzosen umringt, wiederum einer reichen Musterkarte der verschiedensten Waffengattungen.

„Un cigarre, Monsieur, s’il vous plaît, un cigarre“ Vorsorglich hatte ich mich mit einer hinreichenden Menge des begehrten Artikels versorgt, und rasch verbreitete sich um mich die lauteste Heiterkeit, die sich in den possenhaftesten Sprüngen und Geberden äußerte. Blos ein schlanker blonder junger Mann von fast deutschem Typus hatte nicht gebettelt und hielt sich in einer gewissen Entfernung von den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fage
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_718.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2020)