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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

zu charakterisiren, zu classificiren, und ihr Name wird heißen: „Fäulniß und Untergang“. -

Wie wir auf dem Hinwege mit deutschen Straßburgern und Elsassern zusammentrafen, so fanden wir auf dem Rückwege Gelegenheit auch ein paar französische Elsasser kennen zu lernen.

Ein junger Mann, der Officier in der Mobilgarde gewesen war, sprach, obgleich Gefangener, in unserer Gegenwart sein Franzosenthum sehr entschieden aus. „Wenn Elsaß und Straßburg deutsch werden. so komme ich nie wieder nach Straßburg.“ Eine deutsche Dame, mit der er sich in gebrochenem Deutsch unterhielt, glaubte ihn bekehren zu müssen, indem sie ihm sagte, Straßburg und Elsaß seien ja deutsch gewesen.

„Nie!“ erwiderte der junge Mann ganz bestimmt. „Straßburg war eine freie Stadt, hatte weder Kaiser noch König! Also – ist es französisch!“

Als die Dame erwiderte: „Es gehörte aber ja doch zum deutschen Reiche!“ sah sie der Franzose schlau an und sagte freundlich lächelnd:

„Sie irren, Madame, Straßburg war niemals deutsch!“

Und damit basta!

Später stieg ein älterer Herr in unser Coupé. Wir kamen in’s Gespräch. Er war ein hochstehender Geschäftsmann von Straßburg, der durch die Belagerung unendlich gelitten hatte. Er bekundete sich als ein französischer Elsasser, das heißt als ein solcher, der ein Franzose zu sein glaubte.

Ich sagte ihm: „Die Elsasser sind Deutsche und bleiben deutsch. Es ist Keiner Franzose, weil er Franzose sein will, wie kein Adler ein Falke, kein Rabe eine Krähe wird, weil sie es vielleicht möchten.“

„Aber wozu ist es dann nöthig, daß der Elsaß wieder deutsch werden muß? Würde Deutschland nicht die Freundschaft von Frankreich sicherer gewinnen, wenn es Elsaß bei Frankreich ließe? Würde es nicht viel humaner sein, wenn Deutschland sich auf den hohen Standpunkt stellte, gar keine Eroberung machen zu wollen?“

Gerne erkannte ich diesen „höhern“ Standpunkt an. Aber die Natur der Dinge ist nicht diesem Standpunkte angemessen. Wie kein Adler zum Geier wird, so wird kein Volk seine Geschichte, sein Wesen, seine Geistes- und Seelenrichtung verleugnen können. Dem deutschen Volke ist die deutsche Geschichte lebendig in’s Blut übergegangen. Es weiß, daß Frankreich den Elsaß und Straßburg auf die ungerechtfertigtste Weise Deutschland entrissen; daß es seit Jahrhunderten Deutschland mißhandelt; daß Deutschland durch Ränke veranlaßt wurde, dazu stets theilweise hülfreiche Hand zu leisten; daß bis 1813 der Rheinbund die erste Armee Frankreichs gegen Deutschland war, daß bis zum Jahre 1870 der Elsaß den Franzosen die Elite ihres Heeres gegen Deutschland liefern mußte. Das Alles war nie vergessen in Deutschland, das Alles wurmte in allen Herzen aller denkenden Deutschen.

Endlich kam Napoleon der Dritte mit Zustimmung, mit Hülfe von ganz Frankreich und wieder auch mit Elsasser Elitencorps und begann ohne alle Veranlassung den Krieg um den Rhein! – Da wurden alle die schlummernden Gefühle wach; jede Schlacht, jedes Blutfeld, bedeckt mit Deutschen, rief den Gedanken lebendiger in der Seele des deutschen Volkes: „Jetzt ist es aus! Jetzt muß Frankreich den Elsaß herausgeben!“

Es ist philosophisch vielleicht ein berechtigter, ein berechtigterer Standpunkt, wenn der Philosoph sagt: „Gewinnen wir Frankreich durch Großmuth!“ Aber das Volk, die Geschichte Deutschlands, die Geschichte der Franzosen in Deutschland, auf allen Bergen, in allen Thälern Deutschlands in Ruinen eingeschrieben, die Geschichte des Krieges von 1870, wie er herbeigeführt, wie er Deutschland aufgezwungen wurde; wie ganz Frankreich von Girardin und Thiers bis zu Victor Hugo hinauf dabei an den Gewinn der Rheinprovinzen dachte; wie Deutschland diesen Kampf mit dem Herzblut seiner besten Söhne zurückweisen mußte – das Alles zusammen hat eine Seelenströmung im ganzen deutschen Volke geschaffen, naturgemäß heraufwachsen lassen, die heute entweder den Elsaß gewinnt oder das deutsche Volk bis zum Untergange kämpfen läßt, ehe es diesen Kampfpreis, den es im Namen seiner Geschichte, seiner Väter, seiner Enkel fordert, aufgeben wird. Es ist keine philosophische Schlußfolge, keine philisterhafte Berechnung, keine Großmachtlust, keine militärische Angst und Vorsicht vor der Zukunft – es ist einfach ein naturgewachsener Entschluß des deutschen Volkes, mit Frankreich abzurechnen und den Elsaß[WS 1], der deutsch ist, als deutsches Volk und Land zurückzufordern.

„Ja,“ erwiderte der geistvolle elsasser Deutsche, der Franzose zu sein glaubte. „Ja, wenn wir nun nicht Deutsche sein wollen?“

„Adler sind keine Geier, ob sie auch wollten! Doch ernster; Ihr werdet es sein wollen, in Bälde! In zweihundert Jahren seid Ihr keine Franzosen geworden; in zehn Jahren werdet Ihr keine mehr sein wollen.“

„So viel ist sicher, daß, wenn Sie uns fragen, wenn Sie alle Elsässer fragen, wir in großer Mehrzahl sagen: wir wollen Franzosen sein!“ erwiderte mein Wagennachbar.

„Daran zweifle auch ich nicht!“

„Und deswegen wollt Ihr keine Abstimmung!“ fiel mein Gegner ein.

„Zum Theil, ja! – Aber es giebt noch andere Gründe, Kinder und Unmündige läßt man nur selten ihr Geschick selbst entscheiden. Ihr Elsässer. aber seid Unmündige!“

Der Mann lachte und zog die Schulter.

„Ich bin sicher, Sie geben das am Ende selbst zu. Jedenfalls werden Sie ja zugeben, daß, wer keine Sprache sprechen kann, nicht mündig ist. Ihr Volk in Masse, und bis zu einem gewissen Grade selbst die Feinstgebildeten im Elsaß, sprechen weder deutsch noch französisch!“

„O! nicht französisch!“ lachte mein Sitznachbar.

„Nun ja, wenn Herr Humann, der Finanzminister Louis Philipp’s, sagte: ‚Tous mes brochets sont des truites!‘ (alle meine Hechte sind Forellen), wo er sagen wollte: ‚Alle meine Projecte sind zerstört!‘ (tous mes projets sont détruits), so werden Sie doch nicht behaupten wollen, daß er französisch sprechen konnte!“

Mein Wagennachbar lächelte noch einmal halb mitleidig.

„Und Sie selbst, lieber Herr Nachbar, Sie sprechen sehr gut deutsch, aber können nicht französisch sprechen. Sie haben mir eben noch gesagt, daß die ganze Straße de bière abgebrannt sei!“

„Das ist auch so!“ erwiderte er.

„Sie irren; nicht die Rue de bière, sondern die Rue de pierre, nicht die Bierstraße, sondern die Steinstraße ist abgebrannt.“

Er lachte nicht mehr.

„Und unmündig sind doch wahrlich sehr viele Elsasser, wenigstens alle elsasser Bauern mit seltener Ausnahme, denn – Verzeihung – ich hasse Niemanden, und die Juden sind bei mir in vieler Beziehung hoch angeschrieben.“

Der Mann sah mich groß an, er war ein Israelit. Ich fuhr fort:

„Sie werden es ja selbst wissen, daß im Elsaß jeder Bauer thatsächlich einen Vormund hat, und daß dieser Vormund sein Hofjude ist, der ihm selbst den Act aufsetzen muß, den der Bauer seinem Maire bringt, wenn er seine Tochter verheirathen oder sein jüngstes Kind taufen lassen will.“

Der französisch sein wollende Straßburger sagte nichts mehr.

„Lassen Sie Ihre Bauern,“ schloß ich, „erst zehn Jahre in deutschen Schulen deutsch sprechen gelernt haben, dann werden sie mündig sein, mündig zur Abstimmung und mündig zur Abschüttelung des Pfaffen- und Judenjochs, unter dem sie heute fast alle, mit seltenen Ausnahmen, schmachten!“ –

Als ich meinem Nachbar sagte, daß die französischen Verwüstungen auf allen Bergen von halb Deutschland in Ruinen angeschrieben stehe, antwortete derselbe: „Die der Deutschen in Frankreich, in Straßburg werden ein ebenso unvergeßliches Andenken bleiben. Die halbe Stadt ist zusammengeschossen, der Dom ist zerfetzt, die prachtvolle Bibliothek ist bis auf das letzte Stück Papier verbrannt.“

Ich gestehe, daß dieser Einwurf mir sehr wehe that. Die Zerstörungen mochten militärisch unerläßlich sein. Aber sie sind dennoch ein schauerliches Andenken im Geiste des Volkes. Und dabei fiel mir dann der heimkehrende verlorene Sohn wieder ein, das Fest, das der Vater ihm bereitete, das Festkleid, das er um seine Schultern legte. Hätte mein Wort Macht, so müßte das ganze deutsche Volk für Straßburg eintreten; träfe es das Ohr eines der gebietenden Herrscher, das Herz eines mächtigen Staatsmannes, so sollte Straßburg ein neues Festkleid bekommen, schöner als es je eines besessen.

Es läßt sich Allerlei dagegen sagen, daß Deutschland heute

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Elaß
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_717.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)