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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 43. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Als Alfred die Schiffstreppe erreichte, war Victor weit weg. Jetzt war auch Anna deutlich zu erkennen. Sie ruderte nicht mehr, die Stangen waren zerbrochen, das leinene Zelt wehte zerfetzt im Winde – das Schiff konnte jeden Augenblick umschlagen. Da stand der arme Verzweifelnde zurückgelassen ausgeschlossen von jeder Betheiligung an der Hülfe, die der Geliebten gebracht wurde, nicht fähig einen Finger zu ihrer Rettung zu rühren, ohnmächtig wie immer und vielleicht auch noch verachtet. Es donnerte fort und fort und der Regen strömte unaufhaltsam hernieder, daß seine Kleider schwer wurden von Nässe, und er stand da am wellengepeitschten Ufer und sah hinaus in das grauverschwommene Chaos von Dunst und Wasser, wo die Geliebte in Todesnoth die Hand nach dem Retter ausstreckte – der sich in diesem Augenblick ein unbestreitbares Anrecht auf sie erkämpfte. Es wallte und wogte, rauschte um ihn und in ihm, als wolle sich Alles in Thränen auflösen; Erde und Himmel und sein eigenes Herz! Und er stieg die Stufen der überschwemmten Schiffstreppe hinab, näher, immer näher der Brandung, dahinein trieb es ihn, das war seiner Schmerzen Ziel und Ende! Was war es denn, Selbstmord? O nein! Verschwimmen in der allgemeinen Auflösung, die Thränenfluth der Seele sich ergießen lassen in das trübe, traurige Wasser, das schon sein Knie umarmte wie bittend: „Komm zu mir mit deinen Thränen, wir gehören zu einander!“

Ein Schritt – und Alles war vorbei! Aber nein, die Rettung Aennchens, die mußte er doch noch abwarten, er konnte ja nicht aus der Welt gehen, bevor er wußte, was aus ihr geworden. O, wenn sie mit ihm hinabsänke in die Tiefe, in die Keiner ihnen folgen konnte! Dann mochte Alles untergehen, er wollte der todbringenden Welle zujauchzen wie einer freundlichen Führerin in das Brautgemach! – Aber nein – Victor arbeitete sich mächtig durch die schäumenden Wogen, er kam ihr nah und immer näher, zwei Spannen vor und eine zurück. Alfred schaute und schaute und sein ganzer Körper erbebte, und er half – half in Gedanken dem Retter mit jedem Athemzug und jedem Herzschlag, während er doch hoffte, daß Anna da drunten im feuchten Element die Seine werde. Und jede Muskel rang mit in dem furchtbaren Ringen des Schiffers, und ohne daß er es wußte, schrie er auf: „Herr Gott, hilf!“ als sich endlich Kahn an Kahn legen sollte und die Wellen sie immer wieder aus einander rissen, bis Victor mit übermenschlicher Kraft den Kahn Anna’s erfaßte und Breitseite gegen Breitseite drückte. Jetzt stützte sich Anna auf die Schulter Victor’s und schwang sich hinüber in das sichere Fahrzeug, und jetzt warf sich Alfred nieder auf die Stufen vor überwältigender Freude und jubelte laut: „Mein Gott, ich danke dir!“ Er wußte nicht mehr, daß er sich hatte tödten wollen, wußte nicht mehr, was er gelitten, was er verloren in diesem Augenblick – er wußte nur, daß Anna aus Todesgefahr gerettet sei. Was war all’ sein Wünschen und Sehnen gegen dies Gefühl! Er schluchzte laut wie ein Kind; aber der Donner und das Brausen des Sturms und das Rauschen der Wellen verschlangen den Freudenschrei der schwachen treuen Menschenbrust.

Es war so einsam und öde rings umher. Die drei jungen Leben, welche da kämpften mit der Macht des Elements und der Liebe; schienen allein auf der Welt zu sein; denn das Unwetter hatte alle Leute auf dem Gut unter Dach und Fach gejagt und Frau Hösli konnte nicht nach der Gegend hinsehen, wo ihre Tochter, die sie geborgen wähnte, über dem offenen Grabe schwebte.

Eine schwere Arbeit blieb noch für Victor zu thun, bis er das Mädchen am sicheren Strande barg. Alfred sah es in fieberhafter Spannung und sein gequältes Herz gestand es sich mit freimüthiger Bewunderung, daß Gott und Natur nichts Schöneres geschaffen hatten, als diesen Mann, der da wie ein junger Titan das empörte Element meisterte. Ein greller Blitz schoß gerade auf Victor nieder; er traf ihn nicht; er umfloß die kämpfende Gestalt mit einer lichten Glorie und sein Wiederschein umtanzte irrlichterartig die schaumigen Spitzen der Wogen; als wolle er den Wanderern auf der schwanken Bahn den Weg vorzeichnen. Vorwärts trieb Victor das Schiff bergauf, bergab, bald schoß es in die Tiefe, bald stieg es hinauf; aber unverrückt ragte Victor empor, und es war, als trüge das Schiff nicht ihn, sondern als trüge er das Schiff, als halte er es an unsichtbaren Fäden über Wasser, wie die Gewalt des Windes über Berg und Thal ihre Beute hinschleppt. Alfred zitterte nicht mehr, er wußte, daß die Gottheit mit dem Kühnen war! – Je näher Victor kam, je mehr mußte Alfred ihn bewundern. Eine geschwollene Ader lag auf der sonst so glatten Stirn und das sonst ewig lächelnde Gesicht war furchtbar ernst, das Auge mit festem Blick auf den Feind gerichtet, der um ihn und unter ihm wüthete. Victor war ein ganzer Mann in diesem Augenblick und Alfred liebte ihn um Anna’s willen und demüthigte sich tief und ehrlich vor seiner männlichen Ueberlegenheit.

Jetzt waren sie da und die letzte Schwierigkeit blieb die, zu landen. Alfred schlug das Herz, – vielleicht konnte er doch noch etwas helfen! Victor warf ihm die Kette zu, er sollte den Kahn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_709.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2019)