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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

bestaunt, allein als ich vor das Weißthurmthor (Porte nationale) kam, wurde ich ganz starr vor Verwunderung und empfand einige Angst, daß die nur noch sehr lose zusammenhängenden Steine des Thorthurms mich sammt Bauer und Braunen begraben würden. Man hatte bereits, um die Passage für die kriegsgefangene Garnison frei zu machen, einen großen Theil der Trümmer aus dem Wege geräumt, und diese Vorstadt lag schon weit von dem rechten Flügel der Parallelen, war also verhältnißmäßig weniger ausgesetzt gewesen; allein trotzdem übertraf die Zerstörung, die ich hier sah, meine verwegensten Vorstellungen. Es war als ob ein Riese, hoch wie das Münster, mit einem tausend Centner schwerem Hammer in der Hand, sich damit amüsirt hätte, die Häuser zu zerklopfen. Wer je eine große Brandstätte sah, kann sich einen ungefähren Begriff von der Scene machen, nur daß bei einer solchen alle die Effecte fehlen, die durch die zerschmetternden Bomben und soliden eisernen Kugeln hervorgebracht werden. Ich halte mich jedoch dabei nicht auf, denn mein Erstaunen sollte an andern Orten noch übertroffen werden. – Der Bauer kannte die Stadt genau und durch ziemlich gesunde Seitenstraßen gelangten wir bald auf den Kleberplatz und an das Rothe Haus, das Hôtel, in welchem ich logiren wollte. Ich war so glücklich, in dem selben ein ziemlich gutes Zimmer zu finden. Ein Granatsplitter hatte nur den einen Fensterladen und eine Scheibe zerschlagen. Ueberhaupt war das Haus, welches die Front mehr nach Norden hat, sehr glimpflich weggekommen und nur mäßig beschädigt worden. Aus meinem Fenster sah ich rechts das herrliche Münster emporsteigen und bemerkte mit Bedauern, daß das riesige gothische Steinkreuz auf seiner Spitze etwas windschief stand. Eine Bombe hatte seinen Fuß gestreift und ein Stück abgerissen, so daß es ein wenig nach links überneigt. Die weiße Fahne wehte noch auf der Galerie, welche die reizende Wendeltreppe links krönt. Auch konnte ich sonst noch einige Lücken bemerken, welche die Harmonie des „Gedichtes in Stein“ störten.

Die Häuser an der Ostseite des Platzes hatten auch ziemlich gelitten, während das ihr gegenüberliegende schöne Musée de la peinture et sculpture völlig ausgebrannt war. Ob Gemälde und Sculpturen darin waren, weiß ich nicht; allein das Gebäude war der Sitz des état major de la place und dies der Grund, warum es von den Bomben besonders berücksichtigt wurde. – Die Statue des General Kleber hatte sich tapfer gehalten. Zu welchem Zweck ihr jemand zur Feier der Uebergabe einen grünen Kranz aufgesetzt hatte, ist mir unerfindlich.

Der Speisesaal im Erdgeschoß des Hôtels war auch ziemlich unversehrt. Eine Kugel hatte nur ein ganzes Fenster eingeschlagen und einen großen Spiegel zertrümmert. Der Tisch war indessen gedeckt und bereit. An einer Ecke saßen ein paar civilisirte Menschen, was ich aus den Etiketten der Weinflaschen schloß, die vor ihnen standen. Da ich zu meiner großen Ueberraschung einen Bekannten aus früherer Zeit unter ihnen fand, so schloß ich mich ihnen an und wir kamen nach frugalem Frühstück überein, gemeinschaftlich einen Ausflug durch die Stadt zu machen. Wir gingen zunächst nach dem Fischerthor, den Quai an der Ill entlang bis nach der Königsbrücke, welche die Franzosen Pont national nennen. Da die Häuser des Quais nach Nordwesten sehen, so dienten sie gewissermaßen als Kugelfang, und die Zerstörung ist ungeheuer. Von einem Hause war gewissermaßen der Vorhang weggezogen, das heißt die ganze Front war weggeschossen, und man sah ihm in’s Herz hinein. Die Balken der Etagen hingen gefährlich herab und das Ganze gewährte einen wunderbaren Anblick.

Wir gingen nun über die Brücke der Ill nach dem Judenthor und auf den Wall, von dem wir aber durch einen Posten höflich hinuntergewiesen wurden. Ueberall dieselbe Zerstörung. Es war, als ob ein Erdbeben in Straßburg stattgehabt hätte. Das giebt vielleicht den besten Begriff von dem Anblick. Das Judenthor war merkwürdig zerhämmert.

Am Steinthor sah es aber am tollsten aus. Die ganzen Vorstädte sind zerstört. Ueberhaupt sind in ganz Straßburg nicht hundert Häuser, die gänzlich unverletzt geblieben sind. Der Schaden nur an Gebäuden wurde von der Municipalbehörde schon zehn Tage vor der Uebergabe auf fünfundvierzig Millionen Franken geschätzt; jetzt bezahlen ihn keine hundertzwanzig Millionen, die Festungswerke gar nicht mitgezählt. – Das Theater ist abgebrannt und die Casernen und sonstige öffentliche Gebäude, besonders solche, die für militärische Zwecke benutzt wurden, sind zerstört. Die preußische Artillerie schoß mit einer fabelhaften Sicherheit, was sich besonders daran zeigt, daß neben gänzlich demolirten Häusern andere gänzlich unversehrt stehen, die man nicht treffen wollte. Die Officiere sahen gar nicht die Gebäude, deren Zerstörung befohlen war; sie orientirten sich nach dem Plane, der ihnen auf den Fuß die Entfernung angab, und berechneten danach die Elevation. Nach mehreren mißglückten Versuchen, auf die Wälle zu gelangen, nahm sich endlich ein preußischer Artillerie-Hauptmann unser an, führte uns auf die interessantesten Punkte und gab die nöthigen Erläuterungen. Die Zerstörung in der Stadt ist groß, allein die an der Angriffsfront ist noch bewundernswürdiger. Am interessantesten war mir Bastion elf. Die Wälle waren gar nicht mehr zu erkennen. In der rechten Stirnwehr war eine Bresche, in welche man beinahe mit Compagniefront hineinmarschiren konnte. Die Böschung war lange nicht so steil wie die auf den Bergen von Saarbrücken. Der innere Raum der Bastion war mit zertrümmerten Laffeten übersäet; auf der Geschützbank stand ein demontirter gezogener Vierundzwanzigpfünder, und das Reduit in der Mitte der Bastion war zu einem einige Fuß hohen, gänzlich unkentlichen Häufchen reducirt. Nochmals, jammerschade, daß kein Photograph bei der Hand war. Die militärischen Behörden selbst hätten, des Ruhmes der Armee wegen, dafür sorgen sollen.

Die Gräben waren allerdings noch voll Wasser; allein die Brücken zum Uebergange waren schon bereit (an einem gedeckten Orte). Das Schießen gegen die Schleußen hatte bereits seine Wirkung gezeigt, denn das Wasser war beträchtlich gefallen.

Vor uns lagen die berühmten Lünetten zweiundfünfzig und dreiundfünfzig und rechts von uns Bastion zwölf. In die linke Flanke derselben, nahe dem Schulterpunkte, war eine nur wenige Schritte breite Bresche geschossen, auf die wir von dem Hauptmann als ein artilleristisches Kunststück aufmerksam gemacht wurden. Man hatte mit den Kugeln regelmäßige senkrechte Linien in die Mauer gegraben und sie durch horizontale durchschnitten. Man hörte absichtlich mit dem Feuer auf, um den Feind nicht darauf aufmerksam zu machen, in welchem Falle er den Schaden nach Kräften reparirt haben würde. Unter dieser Bresche lag ein hohler Raum, und es bedurfte nur noch etwa hundert Schüsse, um den ganzen Wall in den Graben zu stürzen. Das beabsichtigte man kurz vor dem Sturme.

Die Franzosen behaupten, sie hätten sich noch vier Wochen halten können. Das ist nicht wahr. Sie haben sich brav genug gewehrt, das zeigen die Wälle. Daß General Uhrich die Festung übergab, wird, vom militärischen und menschlichen Standpunkte aus beurtheilt, vollkommen motivirt. Ein Sturm würde nicht nur einige tausend Menschen gekostet, sondern auch die Stadt völlig ruinirt haben.

Ich müßte noch viele Seiten füllen, wollte ich einen detaillirten Bericht von dem geben, was ich auf den Wällen und in den Vorstädten sah. Am Canal, dessen nach dem Wall zu gelegenes Ufer einigermaßen gegen die Granaten geschützt war, hatten eine Menge aus ihren Häusern vertriebener armer Familien sich unter Bretter- oder Leinwanddächern nothdürftig eingerichtet. – Ganz sicher waren sie aber auch hier nicht, das zeigen die zerstörten Brückengeländer und die versenkten Schiffe.

Der Verlust der berühmten Straßburger Bibliothek, in der sich viele nur einmal existirende Bücher befanden, wurde sehr bedauert, und wir besuchten die Ruinen der Neuen Kirche, in welcher sie ausgestellt war. Das Innere der Kirche ist ein Trümmerhaufen, und zwischen den Steinen liegen verkohlte Reste von Büchern. Ich suchte nach einem zufällig einigermaßen erhaltenen, fand aber nicht ein Blättchen welches nicht gleichmäßig kohlschwarz war. Man erkannte trotzdem noch den Druck, und ich nahm einige Fragmente mit.

Eine Menge Soldaten strömten dem Münster zu, wo wir gleichfalls Eingang fanden. Das schöne Portal mit der berühmten Fensterrose ist unverletzt. Vor dem Thurm lagen aber Steinfragmente. Die Galerie und Geländer waren hin und wieder beschädigt; und man mußte sich hüten, sich dagegen zu lehnen. Das Dach des Schiffes war gänzlich abgebrannt; allein die darunter liegenden Gewölbe hielten das Feuer von der Kirche selbst ab. An einer Ecke hatte man eine Telegraphenstange aufgestellt und ein Bureau in der Thürwärterwohnung eingerichtet. Eine Kugel war ganz nahe dem Telegraphen durch die Mauer geschlagen. Es war allerdings verboten worden, auf den Thurm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_699.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)