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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

In dem Dorfe war kein Haus mehr, das unversehrt gewesen wäre. In der zunächst nach St. Marie zu gelegenen Reihe war jedes Ruine – ausgebrannt oder zerschossen. Von der Kirche, die gerade in der Schußlinie der Gardeartillerie lag, waren nur noch die nackten Mauern übrig geblieben, kein Fenster, keine Thür nicht hier noch an einem anderen Hause, nicht ganz und nicht halb vorhanden. Die leeren Fenster- und Thürluken machten den Eindruck wie blinde Augen in einem Menschenantlitze. Und das ganze Dorf ein einziges großes Lazareth – eine Jammerstätte der Menschheit – ein Golgatha der Civilisation. Kein Raum war in dem Dorfe von vielleicht siebenzig Häusern zu finden, der nicht mit Verwundeten angefüllt gewesen wäre; die Stuben, die Küchen, die Böden, die Scheunen, die Ställe waren zu Leidensstätten umgewandelt worden, und als zuletzt die bedeckten Räume bei dem immer neuen und immer massenhafteren Andrängen von Blut und Wunden nicht mehr ausreichten, wurden auf der Straße Strohlager ausgebreitet und die zerschossenen, von Anstrengung des Kampfes und Blutverlust erschöpften Soldaten so lange hier niedergelegt, bis anderweitig zu ihrer Unterbringung Platz geschaffen war. Deutsche und Franzosen lagen durcheinander. Das Blut erzeugt eine Gemeinschaft der Herzen, die allen Haß überwindet. Der größte Heroismus begann sich hier auf den Schmerzenslagern von Stroh zu zeigen.

„Nicht eine einzige Klage,“ so versicherte mich später einer unserer Aerzte, „hatte ich aus dem Munde eines einzigen Soldaten darüber gehört, daß er im Dienste des Vaterlandes vielleicht Siech für sein ganzes Leben geworden und nun hier fast hülflos, von Schmerz und Fieber heimgesucht, liegen müsse. Sie klagten zwar über die Schmerzen der Wunden aber ihr Gemüth blieb rein von jeder Verbitterung. Sie sahen auch recht wohl ein, daß die Sache im Augenblicke sich nicht anders bewältigen lasse, und ergaben sich darein. Manche hatten an sechsunddreißig Stunden unverbunden liegen müssen; das waren zwar nur Ausnahmen, aber diese waren da.“

Welchen Contrast dagegen boten die Verwundeten der Franzosen! Nicht alle, aber sehr viele ergingen sich in den entsetzlichsten Verwünschungen gegen den Kaiser, die Regierung, gegen Gott und Menschen.

Und wenn es nur allein die Schmerzen, die Wunden gewesen wären, wenn nur nicht ein Schmerz über die armen Soldaten gekommen wäre, der noch viel schwerer zu ertragen war – der Hunger – der Hunger! In dem ganzen Dorfe war nicht ein Stückchen Brod aufzutreiben; vorher hatten die Franzosen Alles weggenommen. Die Colonnen mit Proviant mußten in kürzester Zeit wohl herankommen, aber für den Augenblick that Hülfe Noth, um die Entkräfteten durch Speise aufzurichten die Schmachtenden zu laben. Die Aerzte waren in größter Sorge und Rathlosigkeit, wie gegen den grimmigsten aller Feinde, den Hunger, Hülfe zu schaffen war. Da stiegen an einer Stelle zwischen zwei zerschossenen Dorfhäusern Rauchwolken auf, und ein Duft begann allmählich sich zu verbreiten, der gegen den Brandgeruch, welcher die Atmosphäre erfüllte, nur um so kräftiger wirkte.

„Das riecht gerade,“ fragte einer der Lazarethärzte zu einem Collegen, „als ob hier in der Verwüstung wieder eine Herdstätte aufgerichtet wäre, auf welcher kräftige Bouillon gekocht wird.“

Und wirklich, da kamen schon dienende Wesen die Dorfstraße herab; in der Hand trugen die Einen dampfende Kessel, die Anderen Näpfe und Löffel von Blech, wieder Andere Brod.

„Madame Simon,“ trat der Anführer der anrückenden Colonne an den Arzt heran, „läßt Ihnen sagen, daß sie hier eingerückt sei und ihr Hauptquartier aufgeschlagen habe und daß Sie, Herr Stabsarzt, nur zu sagen brauchen, wie viele Portionen Sie für Ihre Verwundeten bedürfen; Frau Simon sagt, es muß geschafft werden.“

„Frau Simon aus Dresden hier? Gott sei Dank! Nun ist uns wenigstens nach dieser Richtung hin geholfen. Dachte ich mir’s doch, daß uns die wackere Frau nicht im Stiche lassen würde. Ich will gleich selbst zu ihr hin. Was ist in den Kesseln?“

„Kräftige Reissuppe mit kleinen Fleischportionen.“

„Vortrefflich! Geben Sie den Verwundeten einen dieser Blechnäpfe voll, nicht mehr – der Zustand der Leute macht Diät nothwendig – nur so viel, als zur Labung und Erhaltung der körperlichen Kraft nöthig ist. Ich bin sogleich wieder hier.“

„Wer ist diese Frau Simon?“ frug ich den Arzt begleitend.

„Die Vorsteherin eines Frauenvereins; den Namen des letzteren weiß ich nicht, thut auch nichts; aber Sie sehen, er wirkt in der That und die Vorsteherin an seiner Spitze am allerkräftigsten. Frau Simon ist mit einer wahrhaften Colonne von Material hier angekommen; sie dirigirt und leitet Alles; das ist eine Frau mit einer kräftigen Hand und festem Herzen, die überall da ist, wo man sie braucht, die Tausende unserer sogenannten Lazarethnäscherinnen aufwiegt. Da ist sie!“

Und richtig war es dieselbe, die ich heute Morgen auf dem Leiterwagen in Mars la Tour hatte einziehen sehen. Jetzt stand sie, wie ein Orchesterdirigent mit dem Stabe, mit dem Schöpflöffel hinter einer langen Reihe von brodelnden Kesseln, bald den Schaum von der Fleischbrühe abschöpfend, bald die Portionen austheilend; und je mehr der Arzt Portionen verlangte, desto fröhlicher wurde ihr Gesicht. Es wurde Alles geschafft, dafür ist sie die Frau Simon; und auf ihrem runden, freundlichen Gesichte lag ein sprechender Ausdruck jener werkthätigen Liebe, die nicht erst nach dem Seelenheile der armen Kranken fragt, sondern gleich das Feuer unter die Kessel legt, um ihnen Nahrung und Stärkung zu schaffen. Und welche Wohlthat hat sie ihnen erwiesen! Das müßte man sehen, wie die halb erstorbenen Lebensgeister beim Dufte gesunder Nahrung sich wieder belebten, wie die verwundeten Leiber sich aufrichteten und wie junge Vögel, die lange keine Atzung bekommen, die Lippen nach der lange entbehrten Erquickung ausstreckten. Und nicht nur für die Verwundeten in St. Privat, sondern auch für die in St. Marie schaffte sie noch dreihundert Portionen, die Dr. Bitterfeld durch die Diaconen der Colonne in Kesseln nach dem eine halbe Stunde entfernten Orte bringen ließ. Nun bat ich dieser seltenen Frau die ironische Stimmung, die ich ihr nach der Eingangsfrage entgegengebracht hatte, im Gedanken ab, denn nun begriff ich, wie Jedermann ein Recht hat, jeden und selbst den wildfremdesten Menschen zu fragen, ob er Frau Simon nicht gesehen habe.

Wenn nicht schon Chlum und Rosberitz 1866 den Beweis geliefert hätten, daß die preußische Garde keine Paradetruppe, sondern wahrhaft eine Elitetruppe ist, wenn es noch eines weiteren, blutigeren bedurft hätte – nun wohl denn, so hat diesen St. Marie aux Chênes und St. Privat geliefert. Die Straße nach ersterem Dorfe hinabgehend und an den Eingang desselben gelangend – begegnete ich einem Leichenzuge. Um eine Grabstätte rechts von der Straße stand preußische Infanterie; die näheren Abzeichen der Mannschaften, die weißen Litzen, die weißen Achselklappen und Knöpfe sagten, daß es das erste Garderegiment, das erste Infanterieregiment der preußischen Armee sei. Wenn man dieses Regiment mit seinen Leuten, von denen wenige unter sechs Fuß haben, in glänzendem Paradeanzuge mit den historischen Blechmützen Friedrich’s des Großen bei den Frühjahrsparaden in Potsdam gesehen hatte und wenn man es jetzt sah am Tage nach der Schlacht mit all’ den Spuren der blutigen Affaire! Das Regiment erwies seinem gefallenen Oberst und sechs Officieren die letzten militärischen Ehren. Unter den Klängen des Chorals „Jesus meine Zuversicht“ bewegte sich der Trauerzug mit den sieben Särgen der heldenmütigen Officiere zu den Gräbern, die in zwei Reihen gegraben waren. Nur wenige Cameraden, Vorgesetzte und Mannschaften, konnten das Grabesgeleite geben, die drei Handvoll Staub in die letzte Ruhestätte in fremder Erde nachzuwerfen; die meisten lagen an ihren Wunden darnieder. Wem sonst noch mit seinem Herzen, seinen Thränen und Klagen an diesen Gräbern ein Platz gebührt hätte, Gattinnen und Kinder, Eltern und Geschwister, sie waren Alle fern und vielleicht nur von einer bangen Ahnung dieser schmerzensvollen Stunde durchschauert. So entstand an diesem Tage auf der Wahlstatt von St. Privat ein Grab nach dem andern für die braven Officiere und die tapferen Mannschaften; und ein roh gezimmertes Kreuz erhob sich nach dem andern mit den Namen der darunter Ruhenden. Die preußische Garde-Infanterie, mit Ausnahme der dritten Infanteriebrigade, die bei Amanvillers gekämpft hat, hat ihr Feld des Sieges mit einem Feld der Gräber bezahlt. Die Todten der ersten Garde-Infanteriebrigade liegen beisammen, ebenso die der zweiten rechts und die der vierten links von der Straße. Die tapferen Sachsen, die mit Blut und Leben der Ihrigen den Lorbeer erstreiten halfen, liegen weiter oben bei Roncourt bestattet.

Einige Tage später fuhren zwei Wagen über die im Abendscheine ruhende Todesstatt. In dem ersten saß ein Herr und eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_656.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)