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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Vierter Brief. Auf der Wahlstatt von Doncourt und St. Privat.


„Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Mit dieser Frage trat am Morgen des 19. August in dem Dorfe Mars la Tour ein sächsischer Officier an meinen Wagen. Eigenthümliche Frage! Man ist an hundert Meilen von der Heimath, in feindlichem Lande; von einem von Blut noch rauchenden Schlachtfelde muß man schon wieder zu einem anderen eilen, wo gesunde Glieder, um überall mit anzupacken von großem Werthe sind, wo jede Minute Gewinn eine heilige Pflicht ist, und nun diese Frage: „Haben Sie Madame Simon nicht gesehen?“ Der Fragende muß wohl etwas von dem sonderbaren Eindrucke seiner Worte in meinen Mienen gesehen haben; denn er fügte alsbald seiner Frage die Worte bei: „Nun, Madame Simon aus Dresden, die mit dem sächsischen Johanniterdepôt hier sein soll?“

„Nein! Adieu!“

„Adieu!“

Als ich aus dem Dorfe hinausfuhr und die Straße nach Doncourt, St. Marie aux Chênes und St. Privat la Montagne einschlug, begegnete mir ein großer, offener, mit Stroh und Kisten bepackter Leiterwagen; mitten auf demselben thronte, gleichsam als unumschränkte Herrscherin, eine dicke Frau in den vierziger Jahren, mit rothem, vergnügten Gesichte, angethan mit einem dunkel carrirten Shawl und einem runden, dunklen Strohhut – die könnte man als Madame Simon aus Dresden taxiren, dachte ich mir in einer ironischen Anwandlung der Gedanken.

Ich kam nach Doncourt. Die enge Straße des kleinen Ortes war von einer dreifachen Colonne gestopft. Truppen und Wagen mit Proviant, die nach um das Schlachtfeld gelegenen Orten hingingen, und Wagen mit Verwundeten, die davon herkamen, machten sich die Passage streitig. Nachdem die Cernirung von Metz bereits in der Nacht vom Achtzehnten zum Neunzehnten, unmittelbar nach dem siegreichen Tage bei St. Privat und Gravelotte, beschlossen worden war, befanden sich die zu der Cernirungsarmee bestimmten Truppen bereits in Bewegung, um die Cantonnements um Metz herum zu beziehen; diese Truppen brauchten Lebensmittel, die Verwundeten, wenigstens die von leichten Verletzungen Getroffenen, brauchten Beförderungsmittel, um nur aus der Atmosphäre der Schlachtfelder zu kommen und der sicheren Heilung entgegenzugehen, aber in der Nähe des Kampfplatzes, im Andrängen der Massen, ist der Vorbereitung neuer militärischer Operationen war eine geordnete, ruhige Entwickelung, wie man sie in der preußischen Militärverwaltung gewohnt ist, nicht gut zu erreichen.

Welche Masse von Menschen, welche Bewegung, welches Fluthen, Wogen und Schwirren durcheinander! Dort vor dem Hauptquartiere des Prinzen Friedrich Karl stehen kriegsgefangene Franzosen, in den bunten, halb zerrissenen oder zerschossenen Uniformen so fröhlich und wohlgemuth dreinschauend, als wären sie die Sieger des gestrigen Tages, während unsere Landsleute ernst und bewegt auf die Züge der Verwundeten schauen, die noch immer nicht enden wollen, auf die schwer Blessirten, die vorläufig nach der Dorfkirche gebracht werden. Nach den Soldaten, die in Marschcolonnen durch das Dorf ziehen, streckt sich da und dort aus dem Stroh der Transportwagen ein Arm aus, mit dem Namensruf der Vorbeimarschirenden. Der Angerufene tritt aus dem Glied: „Herrgott – Du Junge bist’s! Na, haben sie Dich auch angekrepelt?“

„Es geht. Ich kann immer noch zufrieden sein – immer besser noch so, als draußen eingebuddelt zu werden, wie so Viele.“

„Hör’ ’mal – weißt Du nichts von meinem Bruder?“

„Todt!“

„Todt – so – so – hm – Na – Adieu – halt’ Dich wacker.“

Und der Soldat, der eben die Todesnachricht erhalten, tritt in das Glied zurück, und über seine Lippen, seine Züge zuckt etwas, was bisher in seinem deutschen Herzen geschlummert hat, was aber jetzt aus den klaffenden Wunden, aus dem Blute des Schlachtfeldes, aus dem Todesröcheln der Sterbenden aufgestiegen ist, wie ein Engel mit dunkeln Fittigen und dem Flammenschwerte – der Geist des Hasses und der Rache!

Ich fuhr das ganze Terrain der gestrigen Schlacht ab – Verneville – Amanvillers, wo das neunte Armeecorps unter General von Manstein mit wahrhaftem Heldenmuth den wüthenden Vorstößen des französischen Centrums von Morgens bis Nachmittags Stand gehalten hatte, wo die Artillerie dieses Corps im Verein mit der des dritten Corps die feindlichen Batterieen zum Schweigen gebracht hatte, nicht ohne bedeutende Verluste an Menschen und Pferden. An den Leichnamen der letzteren konnte man ganz deutlich die Linie erkennen, in welcher die Batterie aufgestellt war, und doch wurde wacker fortgefeuert – so leicht lassen die Holsteiner einmal nicht locker, und die ersten, die aufhörten, waren die Franzosen.

Von da ging es nach Montigny la Grange. In dem Orte fiel mir ein Haus auf, in dessen oberem Theile die Granaten recht anständige Oeffnungen gerissen hatten. Ein Mann in Blouse und Strohhut stand unter der Thür, mit den Anzeichen jener Apathie und Indolenz, welche die Verheerungen des Krieges über die Einwohnerschaft dieser Landestheile gebracht haben. Man muß sein weiches Herz für diese harte Zeit in einen Feldpostbrief packen und nach Hause schicken, hier kommt es Einem immer in die Quere und verrückt den Standpunkt, welcher in den Worten des ersten Napoleon ausgesprochen ist: Das ist der Krieg! Das einzige und praktische Hülfsmittel gegen alle Aufregungen des Herzens ist der Gedanke: Wie wären die Franzosen mit uns verfahren, wenn sie Sieger gewesen wären? Der Besitzer des Hauses und eines bedeutenden Anwesens erging sich, als ich mich mit ihm in ein Gespräch einließ, in eine Fluth von Klagen über den Krieg, von Verwünschungen über den Kaiser. Was kann man dabei anders thun, als die Achsel zucken und schweigen? Ich frug ihn am Ende seiner Klagen, woher der ungeheure Riß im Dache des Hauses käme. „Von einer preußische Granate,“ war seine Antwort. „Der Marschall Canrobert lag bei mir im Quartiere. Man hörte von Mittag an die Kanonen, und daß eine Schlacht im Gange wäre – thut Nichts. Das Diner für den Marschall war um drei Uhr angesagt, und der Marschall setzte sich zu Tische: Die Kanonade wurde stärker. Die Champagnerflaschen wurden eben in Eis gestellt – der Marschall wollte auf den Sieg trinken. Die Ordonnanzen kamen – der Marschall blieb bei Tische. ‚Ah bah, die Preußen sind nicht so schnell und unhöflich, sie lieben selbst den Champagner viel zu sehr, um einen Andern im Genusse desselben zu stören‘. Die Meldungen kamen, der rechte Flügel sei in Gefahr, angegriffen zu werden. ‚Eh bien, ich greife ihn selbst an – den rechten Flügel dieses Hühnerbratens,‘ versetzte er lachend, als die Schüssel und zugleich der Eiskübel mit dem Champagner gebracht wurde. Er hob die Flasche, goß ein Glas ein, hob dasselbe und sagte zu den Officieren, die mit ihm bei Tische saßen: ‚Also, meine Herren, auf den Sieg!‘ Da schlug die Granate in das Dach, und ohne einen Tropfen Wein getrunken zu haben, sprang der Marschall vom Tische auf.“

Wie anders unsere Heerführer! Wenn zum Beispiel Prinz Friedrich Karl zum blutigen Strauße ausgeritten ist, bleibt das einfache Mittagessen oft tief bis in die Nacht servirt, und der Siegeswein nach St. Privat – nach Vionville bivouakirte der Prinz – war saurer Landwein, der für die folgenden Tage aus Vorsicht erst zu einem Glühwein umgeschaffen wurde.

Von Montigny ging es nach St. Privat. Hier war das Todtenfeld der Franzosen. In Haufen lagen die Leichen umher; wo die Kämpfenden keine Deckungen durch Erde- oder Steinaufwürfe hatten, konnte man ganz deutlich die Tirailleurlinien sehen, wie sie von den Unseren, die ihnen auf dreihundert Schritt nahegekommen waren, niedergestreckt worden waren. Bis auf dreihundert Schritte an den Feind hinan – dann ist die Macht, ist der Zauber der Chassepots gebrochen, dann schaut das grause Antlitz des Todes den Feind an. So war es in St. Privat, wo die preußische Garde Schrecken und Vernichtung in die Reihen des Feindes brachte, und das Entsetzen und die Wuth darüber starrt Einem aus tausend und abertausend todten Franzosengesichtern entgegen. „Die Wacht am Rhein“ war das Kampflied der Garde geworden; unter dessen Klängen stürmten sie die Anhöhe hinan, das deutsche Lied war der Franzosen Grabgesang bei St. Privat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_655.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)