Seite:Die Gartenlaube (1870) 631.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Halt!“ rief Anna. „Sie treten mir ja das Kind!“ Sie eilte zu dem zweijährigen Mädchen, welches wie ein Frosch auf der Erde lag und Zimmermann’s breite Füße mit vollster Sorglosigkeit an sich herankommen ließ.

„So, sind die Scheusälchen auch wieder da?“ lachte Zimmermann.

„O Sie abscheulicher Mann, meine Goldkinder so zu schelten! Komm, Ellachen, gieb dem Herrn ein Händchen, daß er sieht, wie artig Du bist!“

„Ja,“ sagte Zimmermann, „komm her, gieb Pfotchen!“

„Meine Kinder haben keine Pfoten, sondern Hände!“ wehrte sich Anna. „So, Ellachen, jetzt giebst Du ihm gar keine Hand – sondern eine Ohrfeige.“ Und sie hob das Kind auf, bis zu dem gewaltigen Kopfe des Freundes und es gab diesem mit seinem dicken Patschchen einen Klaps. Die Kleine strampelte und jauchzte vor Vergnügen bei der Execution.

„Hören Sie, Fräulein Anna, ich werde mit Ihrer Frau Mutter reden, sie soll ein Erziehungsinstitut anlegen, es wäre doch schade, wenn Sie das einzige Resultat ihrer vortreffliche Erziehungsmethode bleiben sollten!“

„Lieber Herr Professor,“ rief Anna vergnügt und unbedacht, „meiner Mutter Erziehung ist nicht schuld, daß ich so bin wie ich eben bin. Es kann einem Jedem was mißrathen! Aus Ihrer orthopädischen Anstalt geht auch nicht Alles gerade hervor, was krumm hineinkam. Das sehen wir an des armen Alfred Bein.“

„Hinke ich denn noch?“ fragte dieser betroffen.

„Sehr wenig, kaum merklich!“ tröstete ihn Zimmermann und streifte Anna mit einem ernsten mißbilligenden Blick, den sie sogleich verstand.

Sie ging auf Alfred zu und sagte leise und reuevoll: „Fredy?!“

„Lieb’ Aennchen!“ erwiderte er – und es war ihnen Beiden, als hätten sie ein langes freundliches Zwiegespräch gepflogen, und Alles war wieder gut.

„Er hat ein braves Herz, der Alfred,“ dachte Anna, „er trägt nichts nach und ist immer gleich freundlich! Ist das nun Schwäche – oder Größe? Weder das Eine, noch das Andere: es ist Herzensgüte. O, wäre nur, wie Schiller sagt, ‚immer die Güte auch groß – immer die Größe auch gut!‘. Wäre Alfred so groß, wie er gut ist, er wäre der vollkommenste Mensch.“

„Es ist wunderbar, Anna,“ sagte Alfred, „wie Dein Wesen oft plötzlich aus dem lautesten oberflächlichsten Scherz in stilles ernstes Sinnen übergeht, wie ein Bach, der eben über Steingeröll herabbrauste, plötzlich in ein tiefes weites Bett mündet und einen stillen Weiher bildet. Diese Eigenthümlichkeit, Anna, ist es, die mich immer wieder an Dich fesselt, wie oft mich auch Deine laute übersprudelnde Art zurückstößt. Es ist eine tiefe Stelle in Deiner Seele, von der Du selbst nichts weißt, und nehmen Deine Gefühle und Gedanken einmal ihre Richtung dahin, so bilden sie jenen friedliche stillen Weiher, von dem ich sprach und dessen Ufer mich so unwiderstehlich locken.“

„Fredy,“ sagte Anna leise und sah sich um, ob auch Zimmermann und Frau von Salten sie nicht hörten. „So schön wie Du spricht kein Mensch. Ich weiß es, Du veredelst mich wie ein gutes Buch und lehrst mich manches verstehen, was mir verschlossen war. Du guter, guter Alfred, schau’, dafür dank’ ich Dir recht von Herzen! Sie legte freiwillig ihre Hand auf die seinige, er hielt den Athem an; ihm war es, als nahe sich ihm ein holdes Trugbild, das jede Bewegung verscheuchen könne; aber aus seinen Augen brach ein Strahl der Freude und Liebe, der Anna traf bis in die Seele hinein. Doch wie es immer geht im Leben, daß der schönste Augenblick auch der kürzeste ist, als wolle der uns Alle erziehende Herr und Meister uns das wahrhaft Köstliche stets nur in den kleinsten Dosen zumessen, – so auch jetzt. Ein Diener brachte Frau von Salten einen Brief. Sie wollte ihn nicht gleich lesen; Zimmermann aber versicherte, daß von zu lange unterdrückter Neugier bei Damen oft die schlimmsten Krankheiten herkämen.

Adelheid lächelte und las. „Alfred!“ rief sie etwas ängstlich. „Victor ist Oberlieutenant geworden und will uns wieder einmal besuchen – Du wirst wohl nichts dagegen haben – nach sechs Jahren zum ersten Male – !“

„Wenn es Dir Freude macht, Mutter, so ist er auch mir angenehm,“ sagte Alfred ernst.

„Ist das Dein Vetter, der wilde Victor?“ frug Aenny.

„Ja.“

Das Mädchen schlug die Hände zusammen vor Vergnügen. „O, das ist hübsch; das wird wieder ein Leben geben, wie mir’s gefällt!“

Alfred streifte Anna mit einem flüchtigen Blick. „Es wird indessen gut sein, Mutter, wenn Victor erst nach meiner Promovirung kommt, denn vorher habe ich keine Minute frei für ihn.“ Es lag etwas Strenges, fast Gereiztes in seinem Tone.

Die Mutter sah ihn befremdet an und sagte: „Wie Du willst, mein Sohn.“

„Dauert es denn noch lange, bis Du Doctor bist?“ fragte Anna.

Er streifte sie wieder mit dem flüchtig mißtrauischen Blicke. „Frägst Du das aus Theilnahme für mich – oder weil Victor’s Ankunft davon abhängt?“

Anna ward sehr verlegen und zögerte mit der Antwort, lügen mochte sie nicht und die Wahrheit hätte Alfred kränken müssen. Da befreite sie Frank und seine Frau aus ihrer Noth. „Darf ich meine Kinder holen?“ frug der Mohr bescheiden wie immer und mit großem Anstand seine kleine dicke Frau am Arme führend.

Deine Kinder, Frank? Was!“ rief Anna schmollend.

Unsere Kinder,“ verbesserte Frank und schüttelte Aenny die Hand, während seine Frau sich zu Frau von Salten setzen mußte.

„Nun denn, wenn Du schön bittest, so will ich sie Euch leihweise für die Nacht überlassen. Morgen früh um Acht müssen sie wieder bei mir sein!“ Sie übergab dem glücklichen Vater die Kleine, nicht ohne sie ihm noch verschiedene Male halb vom Arme zu reißen und zu küssen.

„Bester Herr Frank,“ neckte Zimmermann wieder, „thun Sie mir den einzigen Gefallen und überlassen Sie Fräulein Anna Ihre Kinder nicht ohne Aufsicht, denn sie lernen bei ihr nur Unarten! Lassen Sie sich warnen, ich mein’s gut mit Ihnen!“

„O, Miß kann anfangen mit meinen Kindern, was sie will!“ lachte Frank. „Meine Frau wird schon wieder gut machen, was sie verdirbt. Meine Kinder sind auch die Kinder von Miß, denn wenn sie nicht wäre, ich würde nicht haben meine Frau und meine Kinder, – so ich habe Alles von Miß und sie hat darauf so viel Recht wie ich.“

„Sehen Sie, Professor,“ triumphirte Anna, „bei dem sind Sie abgefahren, der läßt nichts auf mich kommen.“

„Seien Sie ruhig, Fräulein Anna; Sie wären doch die einzige Frau, die ich nähme, wenn ich nicht die Unvorsichtigkeit begangen hätte, zu heirathen, bevor Sie auf der Welt waren.“

„Und Sie wären der einzige Mann, den ich möchte, wenn Sie zwanzig Jahre jünger und kein Doctor wären,“ scherzte Anna, und es gab Alfred wieder einen Stich in’s Herz. Sie war, wenn sie spaßte, wie ein Dornbusch, an dem er sich beständig wund ritzte.

„Alfred, jetzt komm mit mir, ich muß über die Dissertation mit Dir reden,“ sagte Zimmermann, „und bei diesen Liebeserklärungen wird mir ganz schwül. Sie, gnädige Frau, ziehen sich nun wohl in’s Haus zurück, der Abendwind thut Ihnen nicht gut, und Sie, Fräulein Anna, gehen hübsch nach Hause und denken über meinen Vorschlag mit dem Erziehungsinstitut nach. Somit Gott befohlen, meine sämmtlichen schwarzen und weißen Herrschaften. Komm, Alfred!“

„Sehen wir uns noch, Anna?“ fragte Alfred.

„Wenn Du doch nur rudern könntest, da führen wir noch ein Stündchen auf dem See herum. Aber seit Frank verheirathet und meine Brüder fort sind, komme ich nicht mehr dazu, im Mondschein zu fahren; die Mutter leidet ja nicht, daß ich Nachts allein rudere. Nun, das wird Alles anders, wenn Victor kommt; der ruderte schon damals hübsch.“

„Gute Nacht!“ rief Alfred kurz und ging mit Zimmermann.

Die kleine Gesellschaft zerstreute sich. Frau Ida schaute auf dem Heimwege ihren schwarzen Mann lächelnd an. „Frank,“ sagte sie, „ich mag hinkommen, wo ich will, so lieb, wie wir uns haben, so lieb hat sich doch wohl Niemand weiter auf der Welt!“

„Mein Weib!“ sagte Frank und sah auf sie nieder so liebesselig und so liebesstolz, – er hätte mit keinem Gott getauscht. „Weißt Du was ich meine?“

„Nun?“

„Ich meine immer, unserer Miß Herz hängt wie sie einst selber, noch irgendwo oben, wo’s nicht hingehört und wo’s herunterfallen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_631.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2019)