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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 39. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Eine lange Pause folgte den Worten Alfred’s, der so schön, so einfach und doch so beredt das Heldenthum seines ärztlichen Berufes geschildert hatte. Um so mehr trat gerade dadurch das jugendlich Ueberschwängliche hervor, das in Aenny’s Reden gelegen hatte. Diese selbst empfand den eben geschilderten Unterschied zunächst noch nicht; nur das alte Mitleid mit dem treuen Freunde ergriff sie, der aus seinem Schmerze kein Hehl zu machen dachte, und mit weicher Stimme bat sie:

„Lieber guter Alfred! Sei nicht böse, daß ich Dir das Alles so unverhohlen gestand. Ich weiß nicht, wie mir ist, seit gestern habe ich so sehr das Bedürfniß, mich auszusprechen – und gerade gegen Dich.“ Sie legte ihren Arm in den seinen und wandelte mit ihm am Ufer hin. Alfred schwoll wieder das Herz, als sie sich so an ihn hing, in dem Gefühl: „Sie muß doch mein sein.“ „Schau, lieber Alfred,“ sprach Anna weich, „ich weiß wohl, was auch Du leistest in Deiner Art und daß auch der muthig sein muß, der, wie Du sagst, den vielen Gefahren der Ansteckung trotzt. „Aber schau, dabei wird mir so eigenthümlich eng’ und so bang’ um’s Herz und – Du mußt mir das nicht übel nehmen – ich denke lieber an Einen, der auf steiler Felswand ein Adlernest ausnimmt, als an Einen, der schmutziges Erdreich nach giftigen Schlangen durchwühlt; wenn er auch in seiner Art dazu vielleicht ebenso viel Muth haben muß wie Jener.“

„Dein Gleichniß paßt nicht ganz,“ sagte Alfred ruhig, aber stolz, „denn bevor ich so weit war, im sichern Thal die giftigen Schlangen der Krankheiten ausrotten zu können, die den Menschen zerstören, mußte ich Höhen des Denkens und Wissens erklimmen, nicht weniger schroff und schwindelnd als die Felswände, von denen Du sprichst.“

Anna drückte Alfred’s Arm an sich, wie um ihn zu trösten. „Sei nicht böse, daß ich Dir, gerade Dir das sage, ich bin so daran gewöhnt, über Alles mit Dir zu reden, daß ich Dir jeden Gedanken anvertrauen könnte. Und ich glaube, wenn Du von mir fortgingst, ich könnte gar nicht mehr leben ohne Dich. Ich weiß nicht, wie das ist, es ist so seltsam.“

„Ja, das ist auch seltsam!“ sprach Alfred sinnend.

„Siehst Du Fredy, ich meine immer, der Mann müßte erst noch kommen, den ich lieben könnte, weißt Du der große Mann! – und ich müsse auf ihn warten. Aber wenn ich mir dann vorstelle, er sei da – dann thut mir’s immer so leid um Dich, daß ich ihn wieder fortschicken möchte! Siehst Du – so ist mir’s!“

„Lieb’ Aennchen!“ sagte Alfred und schlang leise seinen Arm um sie, während sie so dahin schritten.

Es war auf einmal, als glänze es feucht in Aenny’s Augen. „Ach Fredy, gelt, Du gehst nicht fort von hier?“

„Nicht eher, als bis ich gewiß weiß, daß Du mich –“ er hielt inne, denn solch ein Wort war ja wider die Abrede.

Auch Anna schwieg, aber es mußte ihr plötzlich einfallen, daß er den Arm um sie geschlungen, und sie machte sich los. „Wir haben nun genug Binsen,“ sagte sie, „und hier ist es so feucht, Du könntest Dir nasse Füße holen.“

„Ach, denk’ doch nicht immer an solche Dinge!“ sagte Alfred verstimmt. „Ich bin ja kein kleiner Junge mehr wie damals, wo wir Mutter und Kind spielten und Du immer die Mutter sein wolltest.“

„Ei, das waren doch hübsche Zeiten!“ rief Anna.

„Sie könnten wieder kommen jede Stunde, wenn Du wolltest, Aennchen. Rückert und seine Braut spielten mit zwanzig Jahren noch Mutter und Kind. Es giebt eine Kindheit, die ein poetisches Gemüth nie verliert, eine Kindheit in der Liebe. In einem großen Gefühl, das die Grenzen unseres Seins völlig ausfüllt, wie ein Meer, welches zwei Pole verbindet, schaukelt uns die hochgehende Woge auf und nieder zwischen Kind und Gott! Bald das Eine, bald das Andere – durchmessen wir unser ganzes Sein von seinem Ursprung bis zu seinem Höhepunkt, und je höher die Woge geht, desto dichter streifen wir seine Grenzen. Nimm unsern unsterblichen Rückert zur Hand; er, der die wahre, die heilige echte Liebe gesungen, er wird Dich verstehen lehren, was ich meine. Kennst Du das reizende Lied nicht:

‚Ich und meine Liebste sind im Streite,
Ob mein Kind sie sei, ob ich das ihre‘?“

Anna schüttelte den Kopf.

Alfred fuhr fort:

„‚Jedes will zu seinem Kind das andre
Darum machen, um es so zu pflegen;
Dann hinwieder will das Kind des andern
Jedes sein, sich pflegen so zu lassen.
Und die Mutter, die den Streit mit ansah,
Sprach: das End’ ist, daß ihr alle beide,
Sonst vernünft’ge Leute, nun zu Kindern
Wieder seid geworden. Nun so wartet!
Eure Mutter wird zur Ruthe greifen,
Wenn ihr nicht mit Küssen euch versöhnet.‘“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_629.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2019)