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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

„Ich sterbe, wenn Du von mir läßt!“ hatte sie leise ausgerufen.

Sie schien einer Ohnmacht nahe. Man brachte sie in Ulrich’s Zimmer und ließ sie dort sich auf einem Ruhepolster niederlegen und flößte ihr Wein ein – und dann umgaben sie Ulrich, Melusine, der Vicomte, der herbeigeeilt war, und Heinrich – der Richter hielt sich im Hintergrund, um ihr die ersten Mittheilungen nicht dadurch zu erschweren, daß sie dieselben sogleich amtlich zur Kunde genommen sähe.

Was sich aus diesen Mittheilungen ergab, die Annette, als sie sich gefaßt und gesammelt, machte – meist zu Melusine, welche vor ihr kniete und ihre Hand in der ihrigen hielt, gewendet – das war eine dunkle Geschichte von Leid, Leidenschaft und Verbrechen. Es war spät Abends am vorigen Tage, vielmehr schon Nacht gewesen – innerlich erregt und beunruhigt, wie von einer nagenden Sorge erfüllt, habe ihre Mutter nicht den Entschluß fassen können, sich zur Ruhe zu legen – endlich sei sie in ihr Schlafzimmer gegangen; nach einer kurzen Zeit habe Annette, die, ihr Haar für die Nacht ordnend, bei der Lampe gesessen, sich erheben wollen, um der Mutter zu folgen, als sich plötzlich so unhörbar wie rasch die ihr gegenüber befindliche Thür geöffnet habe – erschrocken, mit einem Ausruf der Angst sei sie emporgefahren; ihr gegenüber habe derselbe Mann, der Fremde, gestanden, der sich am gestrigen Tage schon einmal ihr genähert, um ihr einen Brief an ihre Mutter zu übergeben. Heftig, mit unterdrückter Stimme jedoch, habe der Fremde ihre Mutter zu sprechen verlangt. Wie es ihm gelungen, die unten von der Terrasse aus in den Schloßthurm führende Thür, die sie wie allabendlich gestern selbst verschlossen, zu öffnen und so in ihre Wohnung einzudringen, sei ihr ganz räthselhaft, auch seine genaue Kenntniß der Räumlichkeiten, da er über dunkle Treppen und Corridore ohne Licht und Führer den Weg heraufgefunden und sich nun nach seinen ersten Worten dem Schlafzimmer ihrer Mutter zugewendet.

Die Mutter sei, von Annettens Ruf herbeigelockt, auf der Schwelle erschienen, habe sich in ihrem Schrecken an der Thüreinfassung halten müssen, dann aber habe sie sich rasch, wie mit Hülfe auflodernden Zornes, gefaßt, sei vorgetreten – und aus dem heftigen, sich bald zu Drohungen von Seiten des Fremden, zu zornigen Vorwürfen von Seiten ihrer Mutter steigernden Zwiegespräch Beider hatte Annette trotz des Zustandes von namenloser Angst, worein dies Alles sie versetzt, das ganze Verhältniß dieses Mannes zu ihrer Mutter, das ihr so lange ein Geheimniß geblieben, erkannt und erfahren – dieser Mann war ihr Vater; er hatte trotzig darauf gepocht, daß er es sei; er hatte vielfach seine heilige Pflicht, für die Rechte seines Kindes auftreten, sie durchfechten und siegen lassen zu müssen, angerufen und betheuert; er hatte die Herzenshärte, die böse Rachsucht, den tückischen Groll ihrer Mutter, die lieber ihr Kind der Armuth und Dunkelheit überlasse, als ihre böse Leidenschaft nicht befriedige, verwünscht und verflucht. Die Mutter hatte mit Vorwürfen aus früheren Tagen geantwortet, welche Tage der bittersten Demüthigungen, der unerhörtesten Treulosigkeiten und schmählichsten Rohheiten des Mannes wider sie gewesen zu sein schienen. Und so hatte Annettens Mutter in unbeugsamem Zorne, mit tiefer Empörung und unerschütterlichen Willens dem sich nach und nach zu einer Art Raserei erhitzenden Manne gegenübergestanden und endlich ihm gedroht, sie werde durch Hülferufe Menschen herbeiziehen, wenn er nicht gehe und sie lasse.

Annettens Vater hatte hierauf, wie durch diese Drohung eingeschüchtert, sich gemäßigt und an sich gehalten. Er hatte in ruhigerer Weise ihr vorgestellt, daß, wenn jemals, sie jetzt ihr Recht geltend machen müsse, jetzt, wo der Vicomte de la Tour, der nach ihr die nächsten Ansprüche habe, nach Maurach gekommen, sicherlich in der Absicht, diese seine Ansprüche geltend zu machen, und daß es von offenbarem Wahnsinn zeuge, diesen Augenblick vorübergehen zu lassen; daß es später unendlich schwieriger sein werde, gegen die Franzosen aufzukommen, wenn diese den Besitz einmal errungen und erstritten; daß er deshalb diesen Emigranten, die er sogleich im Auge behalten, hierher gefolgt sei; und als auch diese Gründe und Auseinandersetzungen Annettens Mutter nicht erweicht, als sie hart und unbeugsam auf seiner Entfernung für immer bestanden, hatte er in fortgesetzter Mäßigung endlich nur noch von ihr verlangt, daß sie ihre Schriften herausgebe, an welchen er ein ebenso großes Recht habe wie sie, hatte selbst nach diesen Schriften gesucht, einen Eckschrank aufgesprengt und während alles dessen noch auf Annette eingestürmt, von der er verlangte, daß sie sich ankleide, um ihm folgen zu können, daß sie in ihm den Vater sehe und gehorche, daß er sie erdrosseln werde, wenn sie nicht allsogleich folge – in ihrem Todesschreck und ihrer Sinne kaum mächtig, hatte sie ihm gehorcht; da habe die Mutter im höchsten Zorn sich dazwischen geworfen und ihn von ihrem Kinde zurückschleudern wollen – nun aber sei das Entsetzliche geschehen, in neu aufflammender Wuth habe der Rasende eine Waffe gezückt – Annette konnte nicht weiter reden, als sie bis zu diesem Punkte ihrer Erzählung gekommen – sie bedeckte schaudernd ihr Gesicht mit den Händen und ein Strom von Thränen machte sich durch ihre Finger Bahn.

Daß sie in vollständiger kraft- und willenloser Gebrochenheit dann dem entsetzlichen Manne gefolgt, gab sie endlich mit abgebrochenen Worten zu erkennen – daß er ihre Handknöchel umspannend sie fortgezogen, daß ihr draußen im Wandern, Eilen, während er unaufhörlich gesprochen, als ob er in einem Rausche, im Wahnsinne rede, die Besinnung, der Muth, ihm zu widerstehen, die Willenskraft zurückgekehrt, und daß sie in der Nähe der Fähre, über die er sich retten wollte, durch ihre Drohung, die Fährleute zu Hülfe zu rufen, ihre Freiheit wieder errungen; daß er fluchend verschwunden, in Dunkel und Nacht. – –

Es war damit Alles klar und offen gelegt, über jedes Thatsächliche war Licht gegeben, wenn auch die Vorgeschichte der beiden unglücklichen Menschen, die Entwicklung ihres Verhältnisses, das zu so tragischem Ende gekommen, und die inneren Momente des Conflicts ihrer Naturen, der nun durch ein so blutiges Verbrechen gelöst war, in den Einzelheiten unaufgehellt blieb. Der Einzige, der hier ergänzen konnte, war der Pastor Lohoff. Es war offenbar, daß er einen Theil des Vertrauens seines Bruders besaß, obwohl doch nicht völlige Offenheit zwischen Beiden bestanden haben mochte; schwerlich hatte der Pastor mit Wissen seines Bruders dem Grafen Maurach sein Geheimniß zu verkaufen sich erboten, mochte dies, wie wahrscheinlich, ja gewiß, auch um das sein, daß der Vicomte und seine Tochter Erbansprüche auf Maurach besäßen und geltend zu machen gekommen. Doch mochte auch sein, daß beide Brüder diesen Schritt des Einen unter sich abgekartet. Es konnte dem Manne der Wehrangel vortheilhaft scheinen, daß Graf Ulrich, wider seine Gäste aufgereizt, sie aus dem Schlosse weise und ihnen die Schritte, welche sie zu thun beabsichtigen könnten, erschwere, die Hülfsmittel, welche er ihnen gewährte, wieder entziehe.

Aber der Pastor war nicht da – man wußte nicht, wo er war, und sowohl Annette wie der junge Geistliche fühlten ein Widerstreben, den Unglücklichen der Verborgenheit zu entziehen, in welcher er sich hielt.

Zunächst war Aller Beflissenheit Annetten zugewendet, um ihr Trost und Fassung zu geben, während der Richter einen Augenblick wahrnahm, um Ulrich verworrene Entschuldigungen zu machen und seine Trostlosigkeit an den Tag zu legen, von so gründlichem Irrthum verführt, so vermessen wider ihn aufgetreten zu sein. Es war für Annette wohlthätig, daß sie die Betheuerungen, welche der Beamte hinzufügte, nicht vernahm, was man Alles aufbieten werde, um des Schuldigen habhaft zu werden; es wäre für sie, die nur mit Schrecken daran denken konnte, ihren Vater in den Händen der menschlichen Gerechtigkeit zu sehen, und die Gott anflehte, daß er ihn seine Strafe nur in seinem eigenen Bewußtsein finden lasse, eine unnütze Pein gewesen – der Flüchtige hatte viel zu viel Vorsprung gewonnen, als daß es wahrscheinlich war, daß der in jenen Tagen noch ziemlich lahme Arm der Strafjustiz ihn erreichte. Jede Grenze gewährte ja damals noch einen zeitweiligen Schutz, jeder Heerkörper, in den man sich aufnehmen ließ, jede Fremde, in die man flüchtete, eine Art Asyl.




20.

Es waren etwa drei oder vier Tage vergangen. Ueber der unglücklichen Gräfin Ernestine Maurach oder Frau Wehrangel, wie sie sich genannt, hatte sich die Gruft ihrer Familie in der Dorfkirche geschlossen. Melusine hatte Annette in ihren besonderen Schutz genommen; sie war zärtlich besorgt und aufmerksam für sie, wie nur eine Schwester es hätte sein können. Sie umgab sie während der Stunden des Tages, sie theilte mit dem armen, die Nächte fürchtenden Mädchen ihr Lager.

So hatte Annette endlich sich selbst wiedergefunden, und war auch noch der tiefe Ernst der Trauer auf ihrer bleichen Miene, so

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