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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

So sind denn von Napoleon’s acht Armeecorps, mit denen er Mainz stürmen und in Berlin den Frieden dictiren wollte, fünf bereits erlegen: das erste unter Mac Mahon (Hauptquartier Straßburg), das zweite unter Frossard (Hauptquartier St. Avold), das fünfte unter Failly (Hauptquartier Bitsch), das sechste unter Canrobert, und das siebente unter Douay. Unbesiegt, weil unangegriffen, blieben nur noch das dritte unter Bazaine (Hauptquartier Metz), das vierte unter Ladmirault (Hauptquartier Diedenhoven), und das achte, die kaiserliche Garde als Reservecorps, unter Bourbaki (Hauptquartier Nanzig).

In Paris aber, im Gesetzgebenden Körper, hat sich die Stimme der verhöhnten Nation bereits so weit erhoben, daß sie die Absetzung Napoleon’s als Oberfeldherrn, ja sogar die Abdankung desselben als Kaiser fordern konnte. – Das sind die Erfolge unserer ersten großen Woche. Die Nemesis hat gesiegt!




Blätter und Blüthen.


Festungsbriefe aus Mainz. Das goldene Mainz ist zu einem ehernen Mainz geworden; es starrt von Bajonneten und Kanonen. Zwölfhundert Feuerschlünde sind bereit, ihre todbringenden Geschosse auszuschleudern; Wall um Wall, Graben um Graben sammt einem Halbdutzend kleiner Malakoffs umschließt die ehemalige Residenz der Reichs-Erzkanzler von Deutschland, die nunmehr als einer der bedeutendsten oder als der bedeutendste Waffenplatz Europas gilt, und Mainz, unsere eigentlichste „Wacht am Rhein“, ist auch jetzt wieder bereit, den Schrecken einer Belagerung, deren es seit dem Jahre 1792 so manche an sich hat vorüberziehen sehen, zu begegnen.

Doch die Festung ist heute, da wir diese Zeilen schreiben, wohl gerüstet, den alten Erbfeind zu empfangen; ihre Armirung ging mit einer wunderbaren Schnelligkeit vor sich, in kaum drei Tagen war die Riesenarbeit vollendet. Wie erstaunten die guten Mainzer, als man Thore und Zugbrücken, welche seit 1866 nicht mehr geschlossen und aufgezogen worden waren, „probirte“! Schon glaubten die ängstlichsten der ängstlichen Gemüther an einen allzunahen Ueberfall des Feindes. Freilich, zu den schönen Zeiten des seligen Bundestages, da noch Oesterreich sich mit Preußen in die treue Behütung der Festung theilte, waren die Thore der ganzen Stadt, selbst nach dem zu der Stadt gehörigen und von drei- bis viertausend Menschen bewohnten Gartenfelde zu, mit dem Glockenschlage Zehn geschlossen worden, und wer nicht so glücklich war, einen Thorpaß zu besitzen (leider wurde derselbe stets nur für Einen Tag gegeben), mußte im Freien campiren, wenn es ihm nicht gerade gelang, dem der deutschen Sprache meist ganz unkundigen Landsknecht aus Böhmen oder Italien ein beliebiges Stück bedruckten Papieres als Thorpaß unter die Nase zu halten und sich auf diese Weise durchzuschwindeln.

Ja, man trieb in früherer Zeit die Gamaschenknöpferei so weit, die Brückenthore von Mainz und Castel um zehn Uhr Abends – und das Alles, wohl gemerkt, im tiefsten Frieden – zu sperren, daß sich häufig genug Leute in die Nothwendigkeit versetzt sahen, die Nacht hindurch auf der Brücke zu campiren. So passirte es einst einem hiesigen Arzte, daß er, – von Castel kommend, das Brückenthor von Mainz geschlossen fand.

„Herr Corporal von der Wache,“ rief der Arzt, „wollen Sie mir nicht das Thor öffnen?“

„Das kann i mach’n wie i will,“ antwortet ihm lakonisch der Böhme.

„Nun, wenn Sie das können, so öffnen Sie die Thür, ich bin der Doctor N.“

„Das kann i thun und kann’s bleiben lassen,“ brummt es jenseits.

„Aber, lieber Freund, ich muß unbedingt in die Stadt,“ ruft unser Arzt, dem bereits die Geduld auszugehen beginnt, „ich komme soeben von Castel.“

„Das kann i glauben und a nit,“ erwidert der unerschütterliche Krieger.

Verzweifelnd entschließt sich Doctor N., in Castel zu übernachten; doch, o Hand des Verhängnisses, auch dort ist das Thor unterdessen geschlossen worden und kein Parlamentiren hilft.

Noch einmal rennt unser Freund über die Brücke zurück, einen neuen Sturm auf das Mainzer Thor zu versuchen aber seiner eindringlichen Suade wird nun die Antwort: „Wenn’s jetzt nit glei a Fried gebe, wern’s eingesperrt a no.“

Dem Jünger Aesculap’s bleibt keine Wahl; er muß, vor dem strömenden Regen Schutz suchend, in ein Brückenschiff hinabklettern, von wo er am kommenden Morgen zum nicht geringen Erstaunen der inzwischen angekommenen Brückenknechte, bis auf die Haut durchnäßt, schimpfend und fluchend emportaucht.

Das eben Erzählte klingt, wie gesagt, nun bald wie ein „Märchen aus alter Zeit“, und heute fällt es Niemandem mehr ein, selbst jetzt in der Kriegszeit, die Thore der inneren Umwallung zu schließen.

Das ist eine Wohlthat, welche unsere „braven Landleute“ nicht genug schätzen können; denn von allen Seiten strömen sie Tag für Tag in die Stadt, theils Lebensmittel einzukaufen, theils Neuigkeiten zu hören, theils von ihren eingezogenen Söhnen Abschied zu nehmen, zu deren Auffindung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_546.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)