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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 33. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
12.

Graf Ulrich war in dem Zimmer, in welchem wir ihn verließen, geblieben, bis die volle Nacht eingetreten. Dann war er gestiefelt und gespornt in den Hof hinabgegangen, nachdem er seinem Bedienten kurz und lakonisch gesagt, daß er einen Spazierritt im Mondscheine machen wolle; Joseph habe nicht auf ihn zu warten, falls er sich schlafen legen wolle. Im Hofe wandte er sich dem Stalle zu und ließ sein bestes Pferd satteln, ein Thier von ausgezeichneter Zucht und Schönheit. Auch dem Reitknecht befahl er, nicht auf seine Rückkehr zu warten, er solle nur sorgen, daß Hof- und Stallthor geöffnet bleiben; für seinen Rappen werde er, wenn er heimkomme, schon selbst sorgen.

Die beiden Diener, an solche Extravaganzen ihres Herrn gewöhnt, wenn er auch freilich bis jetzt noch nicht im Nachtdunkel – von Mondschein war in diesem Augenblicke wenig zu gewahren – seine Spazierritte gemacht, ließen ihn ziehen und hatten beide, als die Schloßuhr zehn schlug, schon ihre Schlafkammer aufgesucht.

Als diese Stunde von der großen Schloßuhr in einzelnen leise versummenden Tönen durch die stille Nacht gellte, war der Mond übrigens längst aufgegangen. Er stand jetzt voll und klar am Himmel und goß sein bläuliches mildes Licht über die schönen Kastanienwipfel auf der Terrasse hinter dem Schlosse, und mit dunkeln Schattenabsätzen zeichnete er die architektonischen Linien des Gebäudes ab, das so lautlos als ein sorgsamer Hüter geheimnißvollen schweigenden Lebens in seinem Innern dastand. Auch über zwei lebende sich bewegende Gestalten goß er sein Licht, zwei Männer, die, fern von einander, in verschiedenster Weise und verschiedenster Richtung ihren Zielen sich näherten. Der eine ging leise und geduckt; er kam aus dem ummauerten Garten, durch den wir früher die Thurmschwalbe schreiten sahen; er ging jetzt über die Planken der Laufbrücke, welche an dieser Seite über den Graben führte; aber leisen behutsamen Schrittes, wie um das Aechzen der Bretter unter seinen Füßen zu vermeiden. Dann wandte er sich links, schlich im Schatten an der Schloßwand entlang, bis er an die Ecke des großen Thurmes gelangte, und um diese sich wendend verschwand er selbst dem Auge des Mondes unter dem dichten Schatten der Kastanien.

Der andere Mann – weit davon – war hoch zu Roß; er ritt in gestrecktem Trab, über eine unchaussirte Straße, die über ein weites Blachfeld führte; rechts dehnten sich, so weit der nächtliche Horizont sich erstreckte, bleichgraue Kornfelder aus, gleich einem See, über dem sich Dächer und Baumwipfel mit ihren verschwommenen Umrissen fern und zerstreut wie einzelne Inseln hoben. Links erhob ein Höhenzug seine niedrigen Berglehnen, fast schwarz, mit dunkeln Waldkämmen darüber. Das Pferd, das ihn trug, schoß dahin, als ob es von Stahlfedern in seinen Gelenken und Fesseln fortgeschnellt würde, so regelmäßig und weit ausgreifend und schnell; und dabei warf es zuweilen wie in freudiger Erregung über sein eigenes kraftgeschwelltes Bewegen und flugartiges Dahinschießen den Kopf auf und schnob in die frische Nachtluft hinein eine Wolke von Dampf.

Der Reiter, der es nicht anders als mit weichem Schenkeldruck zu befeuern hatte, erreichte jetzt das Ende des Blachfeldes und sah sich nun auf einer sich westwärts abdachenden Höhe; eine weite Thallandschaft lag vor ihm, in die es sanft, unmerklich fast, hinabging. Die Siedelungen, die wie dunkle Schiffe über der Fluth der Kornfelder lagen, waren wenige; aber ganz fern noch, inmitten der Landschaft, erhoben sich Häuser und hohe Bäume, oder waren es Thürme? … es war nicht zu unterscheiden, man sah nur dunkle wirre Linien in nebelhaftem Duft; auch dauerte es noch lange, noch bedurfte es einer langen unausgesetzten Anstrengung des edeln Thieres, bis sich erkennen ließ, wie auf einzelnen Dächern, auf Giebeln und Essen, auf schwarzen rundbäuchigen Kappen von Thürmen der falbe Glanz des Mondes lag.

Und dann noch eine Weile, eine Zeit, die sich nur noch nach Minuten berechnete, und ein Pflaster war erreicht, und häufiger und häufiger tauchten rechts und links kleine Häuser aus rohem Ziegelbau auf, hart an der Straße, mit Höfen, auf denen Hunde anschlugen, mit kleinen Fenstern, hinter denen hie und da noch Licht schimmerte; dann kamen Hecken mit dunkeln Bohlenthüren in der Mitte, Mauern, überragt von kleinen Gartenhäusern – und endlich that sich dicht vor dem Reiter ein hohes, offenes Stadtthor auf.

Er zog die Zügel an, das Pferd ging Schritt, es schlug mit dem Hufe auf die Planken einer Brücke. unter dem Thor ging eine Schildwache auf und nieder. Sie rief dem Fremden ein „Qui vive?“ entgegen; dieser wollte anhalten und Auskunft über sich geben – die Schildwache aber schien es für überflüssig zu halten, ihn anzuhören, sie winkte verdrossen mit der Hand und der Fremde ritt weiter.

Die Straßen der Stadt schien er zu kennen; er wandte sich rechts, ritt durch einige stille und schmale Gassen, dann wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_513.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)