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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Diese „Heimsuchung“ ist nun gekommen – wie wir am Anfange unseres Artikels sagten, über Nacht, rasch und unerwartet. Aber mitten unter den vielen Beweisen von Opfermuth und Opferfreudigkeit, welche uns die letzten Tage schon brachten und welche die kommenden Wochen noch bringen werden, wird die „internationale Hülfsthätigkeit im Kriege“ mit ihrer Hingebung, ihrer Furchtlosigkeit vor dem Tode und mit dem einzigen Bemühen, Wunden, die eine fremde, mörderische Hand geschlagen, zu heilen, nicht die letzte Stelle einnehmen. Ihre Bemühungen „werden von dem verdienten Erfolge begleitet sein“, und als Lohn wird sie den Dank der Kranken, den Segen der Sterbenden und die Anerkennung des ganzen Landes ernten.




Vom Gedächtniß.
Von Ewald Hecker.
Fassungs-, Behaltungs- und Herstellungsvermögen. – Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen. – Von der Nahrung des Geistes und deren Verarbeitung (Assimilation). – Vom Gesetz der Ideenverbindung. – Die Mnemotechnik oder Gedächtnißkunst. – Gedächtnißverse und andere Gedankenbrücken. – Herr von Schnabelewopsky in Verlegenheit. – Scheinbare Abnormitäten. – Der Rechenkünstler Dahse.

Unter allen geistigen Fähigkeiten nimmt unzweifelhaft das Gedächtniß einen wichtigen Rang ein; denn es ist die Grundlage alles geistigen Lebens und Schaffens. Wir verstehen unter Gedächtniß zunächst die Fähigkeit unseres Geistes, von einmal aufgenommenen Eindrücken gewissermaßen Spuren und Ueberreste festzuhalten und daraus allmählich das Material zu bilden, aus dem unser geistiges Leben sich entwickelt. – Wir sehen aber bald ein, daß dies Material für uns nur dann einen Werth haben kann, wenn wir auch wirklich fähig sind, dasselbe zu benutzen, das heißt wenn wir in jedem Augenblick diese Bilder und Reste früherer Eindrücke uns zugänglich zu machen und sie wieder vor das Auge unseres Geistes zu bringen im Stande sind. Deshalb gehört zum Gedächtniß in zweiter Reihe das sogenannte Reproductionsvermögen oder die Erinnerungskunst.

Kant stellt drei Factoren des Gedächtnisses auf, indem er sagt: „Es gehört dazu erstens, daß man etwas in das Gedächtniß fasse; zweitens, daß man das Gefaßte im Gedächtniß behalte; drittens, daß man das Behaltene leicht reproduciren könne.“ Wir können auch in der That diese drei Factoren des Gedächtnisses oft klar von einander unterscheiden, da sie in verschiedenem Grade der Ausbildung und Stärke mit einander vermischt sind. So ist bei manchen Menschen das Fassungsvermögen besonders stark ausgebildet. Dieselben können beispielsweise nach einmaligem Hören sofort eine ganze Reihe von Versen recitiren, die jedoch schon nach kurzer Frist wieder vollständig aus ihrem Gedächtniß entschwunden sind, weil das Behaltungsvermögen nicht entsprechend stark war. In anderen Fällen bedarf es einer häufig und gleichförmig wiederholten Erregung, um den Geist zum Auffassen einer Vorstellungsreihe zu bewegen; aber hat er sie einmal gefaßt, dann behält er sie auch für ewige Zeiten. Ganz unabhängig davon kann endlich das Reproductionsvermögen in verschiedenem Grade entwickelt sein. Es giebt Menschen, die eine Sache im Grunde recht gut wissen, aber nicht im Stande sind, sich bei vorkommender Gelegenheit derselben schnell zu erinnern. Ich glaube, viele meiner verehrten Leser werden wohl schon in der Lage gewesen sein, daß ihnen ein Name oder sonst ein Wort, von dem es ihnen unzweifelhaft war, daß es im Schatze des Gedächtnisses ruhte, nicht zur rechten Zeit einfallen wollte. Dasselbe schwebt, wie man zu sagen pflegt, auf der Zunge, und doch will es sich nicht unserem geistigen Auge zeigen; wir können es nicht wiedergeben; daß aber das Wort uns wirklich nicht ganz entfallen ist, lernen wir am besten daraus erkennen, daß es uns dann oft plötzlich scheinbar zufällig wieder zur Erinnerung kommt.

Ich glaube, es wird nicht uninteressant sein, wenn wir den einzelnen Kräften, aus denen das Gedächtniß sich zusammensetzt, etwas näher auf den Grund gehen und die Bedingungen kennen zu lernen suchen, auf denen diese wunderbare Eigenschaft unseres Geistes beruht.

Das Gehirn als das Organ, an welches alle unsere geistigen Verrichtungen geknüpft sind, steht mit der Außenwelt durch die sogenannten Sinnesnerven in Verbindung. Diese bilden den Weg, auf dem in die ursprünglich leeren Blätter des Gehirns sozusagen die ersten Zeichen und Chiffern eindringen, aus denen allmählich das gewaltige Buch des Geistes sich gestaltet. Alles, was wir denken und wissen, hat einmal seinen Eingang in’s Gehirn auf dem Wege der Sinnesnerven gefunden (nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu), und wir können es, wenn wir die Entwicklung eines kindlichen Geistes aufmerksam betrachten, Schritt für Schritt verfolgen, wie sich aus den „Sinneswahrnehmungen“ allmählich die „Vorstellungen“ bilden, die in immer sich steigernder Fülle den Inhalt des geistige Lebens ausmachen. Doch wir lernen dabei auch erkennen, daß es kein bloßes Eintragen des todten Buchstaben ist, sondern daß der Buchstabe lebendig wird im Geiste und daselbst als eine Kraft weiter wirkt und schafft.

Wir wissen es, daß sich im Grunde jede Erregung unserer Sinnesnerven auf eine Bewegung zurückführen läßt: das Licht, das den Augennerv in Thätigkeit setzt, gilt dem Physiker als Wellenbewegung des Aethers; der Schall, der unser Ohr trifft, als Bewegung kleinster Lufttheilchen etc. Diese Bewegungen nun, so können wir uns etwa vorstellen, dringen in freilich unbekannter Form auf dem Wege der Nerven in’s Gehirn, kommen aber nun hier nicht etwa zur Ruhe, sondern wirken auf die vorhandenen Vorstellungsmasse, dieselben mit in den Kreis der Bewegung hineinziehend, bald abstoßend, bald anziehend, je nach ihrer Natur – und schaffen so aus sich selbst und den vorhandenen neuen Vorstellungen, die mit den alten in tausendfache Beziehungen getreten sind. Wir können, so materiell es auch klingen mag, den Act der geistigen Auffassung einer Sinneswahrnehmung vielleicht am besten veranschaulichen, wenn wir ihn mit der Aufnahme und Verdauung eines leiblichen Nahrungsmittels vergleichen. Die Sinneswahrnehmungen sind in der Thät für den Geist Nahrungsmittel in jedem Sinne des Wortes, und es wird unser Vergleich um so weniger anstößig sein, da unserem Sprachgebrauche ja der Ausdruck „Verdauen“ auch von geistigen Eindrücken wohl geläufig ist.

Die leibliche Nahrung wird in tausendfach verschiedener Form unserem Organismus dargeboten; doch wissen wir, daß in derselben Gestalt, wie er sie eingenommen, der Organismus seine Nahrung nicht verwerthen und in sich aufnehmen kann. Zuerst muß der Magen sein Amt verrichtet und, nach der Zerstörung der Form, die Nahrungsmittel in ihre elementaren Bestandtheile zerlegt und diese wiederum durch besondere (chemische) Einwirkungen zur Aufnahme zubereitet haben. Dann erst beginnt die wirkliche Aufnahme, die sogenannte Assimilation der Nahrung, d. h. ihr Uebergang in Fleisch und Blut, wobei vor Allem das eine Gesetz hervortritt, daß von den verschiedenen Bestandtheilen des Nahrungsmittels jedes Gewebe den für dasselbe geeigneten Stoff anzieht und sich zueignet, während es die anderen abstößt. Der Muskel nimmt die Eiweißstoffe, der Knochen die phosphorsauren Salze, der Nerv und das Zellgewebe die Fetttheile für sich in Anspruch etc. – Ein ganz ähnliches Bild zeigt nun auch die geistige Assimilation. Der Sinneseindruck, der als „Wahrnehmung“ uns zum Bewußtsein kommt, wird zuerst, wie man sagt, seiner Sinnlichkeit entkleidet und wird zur „Vorstellung“. Es beginnt damit der großartige Zersetzungsproceß, indem sich die Wahrnehmung in ihre einzelnen Bestandtheile, das Bild des Gegenstandes in seine einzelnen Eigenschaften auflöst. Unbewußt und ohne unser Zuthun geht diese Arbeit vor sich und ebenso, wie die Bestandtheile der leiblichen Nahrung hier- und dorthin zu verschiedenen Geweben ihren Weg nahmen, zu denen sie eine chemische Verwandtschaft zeigten, so werden auch die einzelnen Bestandtheile einer Wahrnehmung hier- und dahin in unserem Geiste zerstreut und gehen Verbindungen mit ähnlichen schon vorhandenen Vorstellungen ein. Wenn wir einen Kirchthurm vor uns erblicken, so löst sich unbewußt das Bild in seine einzelnen Eigeschaften auf und die Vorstellungen von „hoch“, „spitz“, „schmal“ etc. werden in uns erregt, indem diese unserem Gegenstande beiwohnenden Eigenschaften gewissermaßen von den bezüglichen Stellen unseres Vorstellungscomplexes angezogen werden. Es erwachen dabei gleichzeitig alle die Vorstellungen wieder in uns, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_503.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)