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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

in den Hof hinausgesprungen waren, standen auf einmal hinter uns. Sie schrieen uns Verschiedenes zu, worauf ich nicht merkte; denn es gefiel mir nicht, daß uns der Rückweg versperrt war, und ich wollte eben nach unserem Schützer rufen, als der Herr der Anstalt aus dem Vorderhause mit Licht erschien – er mochte wohl von unserem Besuche unterrichtet worden sein –, mit einigen Worten die Kerle zur Ruhe verwies und uns, nachdem wir uns noch etwas umgesehen hatten, freundlich hinausbegleitete. Mir war es leichter zu Muth, als ich unsern Führer wieder zu Gesicht bekam.

Die Gassen, in denen wir umherwanderten, hatten einen so düsteren und unheimlichen Charakter und überall stießen wir auf so verdächtige Gestalten, die plötzlich aus der Nacht auftauchten und sich um uns herumschlichen, daß ich, da auch kein Policeman sich weit und breit sehen ließ, den Wunsch äußerte, wir möchten diese Quartiere verlassen. Wir kamen alsdann auf den Rundplatz von Seven-Dials, von dem der Detective bemerkte, daß hier die Diebe sich Rendezvous zu geben pflegten, um ihre Unternehmungen zu verabreden oder die Erfolge derselben sich mitzutheilen. Im Schimmer der Gaslaternen entdeckten wir bald einige Männer und Bursche, die im eifrigen Gespräch zu sein schienen, und wir hatten uns noch nicht lange hier aufgehalten, als eine betrunkene Weibsperson sich mit der größten, handgreiflichen Zudringlichkeit an uns drängte und forderte, wir möchten sie in ein Public-house führen. Es bedurfte fast Gewalt, sie los zu werden; sie verfolgte uns aber laut schimpfend noch eine ziemliche Strecke weit.

Das Nächste, was wir in genauere Untersuchung zogen, war wieder das Gesellschaftszimmer eines Lodging-House’s, das aber diesmal aus einem abscheulichen Keller bestand, in den man auf einer Leiter von der Straße aus hinuntersteigen konnte und wo alle Geschlechter und Altersclassen bunt durcheinander sich befanden. Dicht daneben traten wir in ein verfallenes, wie es schien, ganz ausgestorbenes Haus. Der Detective machte Licht und führte uns durch einen niedrigen und schmalen Gang in einen kleinen Hof hinaus, wo aller mögliche Unrath aufgehäuft und in einem Winkel eine Art von Stall, eng und dumpf, angebracht war. Der Detective leuchtete hinein und wies uns einen großen Unrathhaufen, auf dem Ratten hin und hersprangen.

„Ah,“ rief er aus, „sind heute noch keine Gäste da? Es ist wohl das Wetter noch nicht schlecht genug, auch mag es noch etwas zu früh sein.“

Er setzte mir hierauf auseinander, daß Manche sich über Nacht in diesem Unrath eingrüben und mit dem Ungeziefer zusammen dieselbe Lagerstätte theilten. Auf unserer weiteren Wanderung durch Seven-Dials stießen wir auf den Trottoirs dicht neben den Häusern nicht selten auf einen laut schnarchenden Schläfer; mancher war auch schon in die nahe Gosse hinabgerollt.

In diesem Stadttheile war unser Führer überall bekannt und wir wurden, wohin wir kamen, freundlich aufgenommen. Abermals trat derselbe mit uns in eine Hausflur und wollte in derselben Licht machen, aber der Wind blies es aus, und da wir keine Zündhölzer mehr hatten, so mußten wir uns im Dunkeln weitertappen. Der Detective war aber gut orientirt; er sagte uns, wir möchten uns an ihm festhalten, Einer hinter dem Andern; dann würden wir ganz sicher steigen. Wir ließen uns auf solche Weise auf einer Kellertreppe hinab. Unten angekommen, wurde an eine Thür gepocht, die sich sogleich öffnete und woraus uns ein kleines, sehr artiges Mädchen, etwa in dem Alter von zwölf Jahren, mit Licht entgegenkam. Sie wurde über unsere Absicht verständigt, die Kellerwohnung zu sehen, und wies uns nun freundlich den traurigen Raum mit seinem ärmlichen Inhalt.

Sie war ganz allein, da ihre Eltern und Geschwister noch nicht heimgekommen waren, obschon es tief in der Nacht war, und unterhielt in einem Kamine Feuer, wie es schien, um ein Abendessen für ihre Leute zu bereiten. Als ich mich näher umsah, entdeckte ich kahle und feuchte Mauern, einen Boden von Ziegelsteinen, von denen manche herausgebrochen waren; zwei kleine Oeffnungen, die man kaum Fenster nennen konnte, denn sie waren zum Theil ohne Scheiben und gingen gegen die Straße hinaus, auf der wohl mehr Schmutz als Licht und Luft in die dumpfe Höhle herabkam. Der Keller war eng und niedrig und mit dem verschiedensten Hausrath von der elendesten Beschaffenheit so voll gestopft, daß man, um vorwärts zu kommen, über denselben und auf denselben steigen mußte. Stinkende Lumpen waren zum Trocknen durch den ganzen Raum aufgehängt.

„Das Quartier, das Sie hier sehen,“ sagte der Detective zu mir, „ist nicht etwa eine Ausnahme, es giebt deren ganze Straßen und Viertel hindurch in London.“

Hollingshead, der eigene Entdeckungsreisen durch die Wohnungen der Stadt unternahm, bestätigt nur diese Aussage. „Wollte man die elenden Quartiere und Wohnungen in London durchwandern,“ sagte er, „so möchte wohl ein Jahr dazu nöthig sein. Ueberall trifft man auf enge Gassen und Winkel, die sich unabsehbar ineinander drängen, mit flachen, alten, schmutzigen und ruinösen Häusern, übervölkert von Männern, Weibern, Kindern, Hunden, Katzen, Vögeln und Hasen. Die Kinder überall zerlumpt, wieselähnlich, von der Wiege auf zu einem harten Leben der Arbeit oder zum Verbrechen und Laster erzogen. Die sociale Lage von mehr als halb London ist so elend, wie es nur die von Irland in seinen schlimmsten Tagen war.“

Der wöchentliche Mietzins dieser Quartiere schwankt zwischen neun Pence bis vier Schillingen, durchschnittlich besteht er aber aus zwei Schillingen. Es ist keines so schlecht, daß es nicht doch immer wieder bezogen würde. Die allerschlimmsten Behausungen finden sich gewöhnlich in den zahlreichen Höfen, wo nicht selten die Cloaken in den Grundmauern der Häuser ohne Abzug nach allen Seiten überströmen.

So beschränkt die Kammern in diesen Häusern sind, so beherbergen sie doch nicht selten mehr als eine Familie. Mit dem größten Leichtsinn nämlich wird unter dieser Bevölkerung geheirathet, denn die Kinder setzt man, sobald sie nur laufen können, auf die Straße, wo sie dem öffentlichen Mitleiden oder dem Teufel übergeben sind.

In St. Giles, einem der ärmsten Stadttheile des westlichen London, gab es ein Quartier, das aus fünf Privat- und acht Lodginghäusern, zusammen dreizehn, bestand, worin nicht weniger als dreizehnhundert Menschen wohnten. Church Lane hat zweiunddreißig Häuser, welche hundertneunzig Kammern enthalten, wo damals in jeder ungefähr neun Personen, in allen zusammen siebenzehnhundertundzehn lebten. Ja, in einer dieser engen Kammern wurden vierzehn Personen entdeckt, welche noch dazu gar nicht mit einander verwandt waren – eine Wittwe mit drei Kindern, eine andere mit einem Kinde, zwei Ehepaare, ein alleinstehender Mann und drei alleinstehende Weiber. Vierhundertdreiundsechszig Personen wurden gefunden, welche neunzig Bettstellen benutzten, so daß immer fünf sich in ein Bett theilten, wo nun Alles, die Eheleute und ihre noch kleinen oder schon erwachsenen Kinder, Fremde und Bekannte, Gesunde und Kranke und Sterbende zusammengepackt lagen, so daß selbst Thiere hier nicht aushalten würden. Bei solchen Verhältnissen wird es Niemand für möglich halten, den Sinn für Schicklichkeit, das Schamgefühl und die Selbstachtung zu bewahren.

In Fletcher’s Court traf man wieder auf zwei Kammern, von denen jede mit vierzehn Personen besetzt war. In der einen war Stroh das gemeinsame Lager und die Kleider mußten über Nacht zur Decke genommen werden. Keines dieser Zimmer hatte mehr als sieben Fuß Breite, zehn Fuß Länge.

Der bekannte Earl von Shaftesbury sagte vor einigen Jahren im Hause der Lords, daß er einen Winkel (Cow Croß) in Clerkenwell besucht habe, wo er in sechszehn Höfen hundertdreiundsiebenzig Häuser mit fünfhundertsechsundachtzig Kammern, in jeder Kammer eine Familie, also fünfhundertsechsundachtzig Familien fand, welche zusammen dreitausendsiebenhundertfünfundvierzig Personen zählten; so daß durchschnittlich sechseinhalb Personen auf eine Kammer kamen. Diese Kammern seien niedrig, dunkel, ungesund, schmutzig, so niedrig, daß er kaum darin aufrecht stehen konnte, und so eng, daß, wenn er seine Arme ausstreckte, er auf jeder Seite die Wände mit den Fingerspitzen erreichen konnte. In solchen Zimmern traf er oft fünf bis neun Bewohner. – In acht schmalen Höfen abseits von Holborn Hill fand er zweiundsechszig Häuser mit dreihundertvierzehn engen Kammern, worin vierzehnhundertneunundsiebenzig Menschen wohnten. „Es ist unmöglich,“ setzte er bei, „das physische und moralische Verderben, das aus diesen Verhältnissen entspringt, sich einbilden oder seine fürchterlichen Folgen auf die Bevölkerung schildern zu wollen.“

Nachdem wir das arme Kind beschenkt hatten, stiegen wir aus der finstern Höhle wieder herauf und traten in den kleinen mit Unrath erfüllten und mit giftigen Gasen verpesteten Hof hinter dem Hause. Ich fühlte, daß mir unwohl wurde. Auch hatte ich nun genug des Elends gesehen und fragte den Detective, ob er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_491.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)