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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

einer alten Frau gehalten, welche ein sehr abschreckendes Aeußere hatte, doch uns mit großer Bereitwilligkeit ihre Anstalt zeigte. Sie führte uns zuerst in ein Parterrelocal, das ganz mit alten Weibern angefüllt war, die über unseren Besuch unwillig schienen und uns darum nicht gerade freundliche Blicke zuschleuderten; hierauf kamen wir in das Gesellschaftszimmer der Männer. Erst ein paar kauerten an den Tischen; wir mochten ihnen sehr gleichgültig sein, denn sie beachteten uns kaum und rührten sich nicht vom Platze. Endlich begaben wir uns über eine wackelige Stiege, auf der ich Hals und Beine zu brechen fürchtete, in die Schlafräume. Es waren niedrige, enge und düstere Zimmer mit kahlen Wänden und kleinen Fenstern; in jedem standen mehrere ein- und zweispännige Bettstellen dicht nebeneinander. Die Alte zeigte uns die nähere Ausstattung derselben, hob das Bettzeug auf, das mir von Segeltuch zu sein schien, so rauh und schwarz war es, und schlug mit einiger Selbstgefälligkeit darauf, gleichsam als wollte sie uns die Vortrefflichkeit derselben andeuten und sich uns für etwaige Fälle empfehlen. Ich sah mir dabei genug, um mich um keinen Preis hineinlegen zu mögen. An den Wänden bemerkte ich einen gedruckten Anschlag, welcher die Zahl der Betten und den Preis für das Nachtlager feststellte. Ich glaube, daß es zu den Aufgaben der Polizei gehört, hier regelmäßige Visitationen über den Zustand der Betten und die Zahl der Schlafgenossen zu halten; doch mag die Ueberwachung solcher Etablissements, deren jedes durchschnittlich fünfzig einfache und fünfundzwanzig Doppelbetten zählt und deren es in London gegen fünftausend geben soll, mit einem jährlichen Durchschnitt von zwei Millionen Kunden, schwer genug sein, da die Gäste die ganze Nacht hindurch zugehen.

Die Lodginghäuser werden allgemein als eine Pest und öffentliche Calamität bezeichnet, weil hier nicht blos der größte physische, sondern auch moralische Unrath sich aufhäuft. Ungeziefer und ansteckende Krankheiten werden hier eingeschleppt; eine erstickende Atmosphäre herrscht hier, weil zu viele und zu verschiedene Leute, Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Bekannte und Fremde in derselben Kammer, ja in demselben Bett sich zusammendrängen und die Zimmer schlecht ventilirt sind; denn, wie ein Besucher derselben äußerte, die Fenster sind nicht dazu da, um frische Luft und Licht einzulassen, sondern um die Kälte abzuhalten.

Kinder, welche ihre Eltern verloren haben und ohne Heimath sind, gehören zu den ständigen Gästen der Lodginghäuser, und halten sich fast immer zu einem bestimmten. Sie leben vom Stehlen, Betteln und der Prostitution. In den schlechtesten Lodginghäusern zahlt jedes Kind, wenn es ein ständiger Besucher ist, gewöhnlich nur einen Penny für das Nachtlager. Kommt es Abends ohne Geld zurück, so wird es wieder fortgeschickt, um sich den Penny zu betteln oder zu stehlen. Gewöhnlich aber ist die Taxe für ein Bett oder einen Bettantheil auf drei Pence festgestellt; nur in den schlechtesten Anstalten dieser Art ist sie geringer. Um einen Penny wohlfeiler schläft man auf dem Fußboden, entweder in den Schlafzimmern oder in der Küche oder im Gesellschaftslocal.

Die Detectives wollten uns nunmehr in eine der verrufensten und gefährlichsten Kneipen führen, machten uns aber dabei dringend zur Pflicht, kein Individuum, das uns da auffallen möchte, zu fixiren und auf den ersten Wink, den sie uns geben würden, uns mit ihnen rasch zu entfernen, denn hier würde man sie, wenn man auch um ihren Charakter wüßte, umsoweniger respectiren, und leicht könnten wir zerschlagen und ausgezogen auf die Straße gesetzt werden. Wir mußten uns in die gefährliche Kneipe durch eine Menge von Gesindel, das vor der Thür sich herumtrieb, den Eingang bahnen und begaben uns durch ein Schenklocal, wo Alles dichtgedrängt stand und mir sogleich eine Dirne entgegensprang, die mir den Rauch meiner Cigarre lachend in’s Gesicht blies, über wenige Stufen hinaus in einen Hinterraum, wo eine ausgelassene und wilde Fröhlichkeit tobte, das Geklimper einer Tanzmusik und mit heiserer Stimme gebrüllte Lieder nicht besonders anlockend erklangen.

Als wir die Thür öffneten, strömte uns ein heißer Qualm entgegen, und wir hatten wieder ein niedriges, aber sehr in die Länge gestrecktes Local vor uns, ungefähr von derselbem Ausstattung, wie das in der zuletzt besuchten Kneipe war; nur die Gäste überboten alles, was wir bisher an herabgekommenen, ausgearteten und verthierten Gestalten gesehen hatten. Die zahlreichen Galgenphysiognomien, die man hier gewahrte, waren von Brandy und Gin und einer wilden Lustigkeit geröthet; viele lagen schon betrunken auf den Bänken und unter den Tischen. Ein entsetzliches Weibsbild, vielleicht schon an der Grenze der Fünfziger, wenn ihr nicht das Laster den Anschein des Alters aufgedrückt hatte, stark decolletirt und von einer unbeschreiblichen Frechheit, hieß uns mit kreischender Stimme als Schenkmädchen willkommen und riß sogleich ein paar Witze, welche die Detectives abwehrten. Von allen Seiten wurden wir neugierig gemustert und konnten manchen finsteren Blick auffangen. Wir drückten uns an die Wand neben der Thür, ließen uns abermals Brandy geben und zahlten für die Person wieder drei Pence. Die Gäste strömten fortwährend ab und zu. Ein Rundtanz wurde begonnen und einige der sitzen gebliebenen Schönen machten sich in unsere Nähe. Wir schenkten ihnen um so weniger Beachtung, als uns das Totalbild der wüsten Scene zu sehr beschäftigte. Aber bald drängten unsere Führer zum Aufbruch, denen hier der Brandy nicht zu schmecken schien. Als wir wieder draußen waren, bemerkte mir einer derselben, daß sie nur höchst ungern in solche Locale gingen, denn wenn sie erkannt würden, so gäbe dies leicht das Signal zu einem allgemeinen Aufruhr.

Eilig gingen wir jetzt durch eine Reihe von Gassen dahin, aber von der Ferne folgte uns ein Kerl, der sich plötzlich an den Detective aus Eastend hing und ihm heulend mittheilte, daß er für heute Nacht auf der Straße bleiben müsse, da er in keinem Workhouse aufgenommen worden sei und keinen Penny für ein Lodginghouse besitze. Der Detective suchte sich seiner zu entledigen, indem er dem Trunkenbolde erklärte, er kenne ihn wohl und er möge sich fortmachen. Aber dieser ließ sich nicht abtreiben, fing mit ihm zu ringen an, und so oft er abgeschleudert wurde, so oft stürzte er sich wieder heran. Unter diesem Tumult, wobei allmählich ein nicht geheuer aussehendes Publicum um uns sich sammelte, kamen wir auf einen Rundplatz, von wo aus ich die hohen Mauern der Docks im Schatten der Nacht emporragen sah. Hier stand eine Droschke, die uns die Detectives zu nehmen riethen, denn immer mehr unheimliches Volk hatte sich um uns aufgestellt und einige daraus fingen bereits an, sich in den Streit zu mischen und dem betrunkenen Bursche gegen uns Recht zu geben. Es war wohl ein sehr abgelegener Stadttheil, in dem wir uns befanden, und den Detectives mochte die ganze Situation nicht gefallen; denn nachdem wir mit dem einen, der uns nun noch im Westend umherführen sollte, die Droschke bestiegen hatten, entschwand der andere nach schleunigem Abschied mit schnellen Schritten neben den Mauern der Docks.

Wir lenkten nun südwärts ab und kamen in das Gebiet von Drury-Lane, nach Seven-Dials, das ich bereits bei Tage besucht hatte. Wer sich aber das Aussehen und die Beschaffenheit von Seven-Dials, das aus mehreren schmutzigen Gassen besteht, näher unterrichten will, der möge dessen Schilderung im Londoner Alltagsleben von Boz nachlesen, wobei ich nur bemerke, daß seit der Abfassung derselben wohl ein Menschenalter verstrichen ist, während welcher Zeit hier Alles nur schlimmer geworden sein dürfte. Unser erster Besuch in einem langen öden Gäßchen galt wieder einem Lodging-House, das aber ehrliche Gäste beherbergte und darum ein sehr friedliches Innere zeigte. Nachdem wir es verlassen, wollte uns der Detective ein Gegenstück davon zeigen, d. h. ein Lodging, wo sich die ärgsten Gauner versammeln. Die Leute, die wir hier sehen würden, seien alle schon im Gefängniß gewesen und mitunter der schwersten Verbrechen verdächtig. Wahrscheinlich seien ehemalige Garotter darunter. An Ort und Stelle angekommen war ich gar nicht erfreut, als unser Schutz- und Geleitsmann erklärte, wir müßten diesmal unseren Besuch ohne ihn machen, weil er sich hier nicht blicken lassen könne; doch möchten wir ganz ruhig sein, er werde vor der Thür Wache halten und, im Falle uns etwas Unangenehmes widerfahren sollte, uns sogleich beispringen. So folgten wir denn seiner Weisung und tappten uns durch einen finsteren Gang in einen Hof, wo wir nur das Erdgeschoß eines Hintergebäudes betreten sollten. Da in demselben die Fensterläden halb aufgeschlagen, die Fenster ganz geöffnet waren, so konnten wir schon von außen eine gute Musterung über die hier befindliche Versammlung halten, die etwa aus dreißig Individuen, Burschen und Männern, bestand. Aber noch hatten wir uns nicht lange mit unserm Schauspiel beschäftigt, als man uns drinnen bemerkte und herausrief, wir sollten hereinkommen. Wir traten näher, öffneten die Thür, blieben aber an ihrer Schwelle stehen, denn die ehrenwerthe Gesellschaft hatte nichts Vertrauenerweckendes. Während wir so zögerten, drängten sich Einige an uns, und Andere, die durch das Fenster

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_490.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)