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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 30. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
7.

Fräulein Melusine de la Tour de Bussières saß am andern Morgen in ihrem Zimmer schon wieder bei der Arbeit, welche sie jetzt mit so viel Muße fördern konnte, während ihr Vater sich eben wieder nach oben in die Bibliothek begeben hatte. Da öffnete sich leise die Thür und ein sehr einfach gekleidetes junges Mädchen trat herein, das aber so auffallend hübsch war, daß Melusine überrascht sie anschaute.

„Kennen Sie mich nicht?“ sagte sie. „Ich habe Sie doch im Kahn über den Graben geschifft, vorgestern Abend?!“

„Gewiß, gewiß, ich erkenne Sie, mein Kind,“ versetzte Melusine, „aber ich hatte da nicht wahrgenommen, daß Sie so merkwürdig hübsch sind.“

„Nicht? Das sieht man doch sonst bald!“ gab die Thurmschwalbe mit dem unbefangensten Ernste zur Antwort.

„Sie haben Recht,“ versetzte Melusine ein wenig verwundert über diese Offenheit. „Es kam,“ setzte sie hinzu, „ich war zerstreut, besorgt um die Aufnahme, welche wir hier finden würden.“

„Und jetzt sind Sie beruhigt …“

„Sicherlich. Der Graf hat uns sehr gütig aufgenommen …“

„Und die Mutter sendet mich,“ fiel die Thurmschwalbe ein, „damit ich mich Ihnen als Gesellschafterin oder als Ihre Zofe anbiete, wenn Sie wollen. Die Mutter sagt, Sie bedürften gewiß eines weiblichen Beistandes, und unsere Mägde in der Küche sind viel zu plump, als daß sie sie Ihnen zusenden dürfte; sie verstehen gar nichts. Ich kann sehr schön coiffiren, die Mutter hat es mich gelehrt.“

„Das ist gar zu viel Güte. Wie könnte ich sie annehmen!“

„O, nehmen Sie sie immerhin an – Sie thun der Mutter einen Gefallen damit.“

„Einen Gefallen?“

„Die Mutter wünscht, daß ich mit Ihnen plaudere; vielleicht denkt sie, das bildet mich; sie sagt, ich soll ganz offen mit Ihnen reden und Ihnen Alles erzählen, was ich weiß. Sie sagt, Sie würden gewiß nach unserm Herrn Grafen fragen, und da soll ich Ihnen Alles erzählen.“ …

Melusine sah das junge Mädchen wieder überrascht an. Das Geplauder derselben schien fast anzudeuten, daß sie in der Wirthschafterin des Grafen, der Frau Wehrangel – so hatte sie sie ja wohl nennen hören, wiedergesehen hatte sie sie noch nicht – eine heimliche Bundesgenossin habe. War die Frau ihrem jungen Gebieter feind, und sandte sie ihr, um sich selbst nicht zu compromittiren, die Tochter als Vermittlerin?

„Sie sehen mich so verwundert an? Nun ja, mich wundert’s auch, denn die Mutter ist, besonders gegen Fremde, die Verschlossenheit selbst. Auch sogar gegen mich. Glauben Sie“ – Annette ging, sich einen Stuhl heranzuziehen und setzte sich darauf Melusinen gegenüber – „glauben Sie, daß ich von ihr gar nicht unsere eigenen Familienangelegenheiten herausbringen kann, zum Beispiel ob mein Vater noch lebt oder nicht? Und das gehört doch dazu. Aber unmöglich! Bald spricht sie so, bald so darüber ... das heißt eigentlich spricht sie nie darüber. Soll ich Ihnen Wäsche mit nach unten nehmen? es wird morgen gewaschen!“

„Ich danke Ihnen … Sie sind sehr freundlich, aber alle solche Arbeit habe ich bisher für mich selbst thun müssen …“

„Nun, das schadet nicht – wollen Sie nicht böse sein, wenn ich Ihnen sage, wie ich darüber denke? Sie haben es gewiß gern gethan, und was die Andern angeht, diese vornehmen und hoffährtigen Leute, diese hochgeborenen Damen, die nicht wußten, wie man einen einfachen Saum näht und eine Nestel zuhakt, so ist ihnen das ganz wohlthätig, daß sie ein wenig gedemüthigt sind und gemerkt haben, daß brave Menschen, die etwas können und leisten und auf sich selber stehen, viel mehr Grund haben, stolz zu sein, als so alberne, hülflose Geschöpfe, die zu träge und zu verwöhnt waren, etwas zu lernen.“

„Haben Sie das auch von Ihrer Mutter gehört?“ fragte Melusine, ein wenig verletzt, wie es schien.

„Nein, vom Caplan.“

„Ist das solch ein Jacobiner, ein Caplan?“

„Nein, der Caplan ist gar kein Jacobiner,“ fiel lebhaft die Thurmschwalbe ein; „er ist aber sehr, sehr klug, obwohl er noch recht jung und eigentlich,“ lachte die Thurmschwalbe plötzlich auf, „auch noch recht gründlich einfältig ist. Man kann ihn so hübsch necken. Er glaubt Alles, was man ihm sagt, und man kann ihn so rasch mit einem einzigen Worte in Verzweiflung setzen – o, es ist gar zu verführerisch!“

„Und thun Sie das oft?“

„Ach nein – früher zuweilen, aber nun, wo der böse Pastor da ist, der ein so durchtriebener abgefeimter Mensch ist, nun nicht mehr, denn nun müssen wir zusammenhalten gegen den – um ihn nicht aufkommen zu lassen mit all’ seinem schlimmen und abscheulichen Gerede; und das ist oft nicht leicht, gar nicht leicht, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_465.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)