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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

welche in diesem Saale sich eingefunden haben, daß sie mit dem anderen Motto:

„Die Botschaft hör’ ich wohl,
Allein mir fehlt der Glaube,“

unbeirrt zu ihrem geliebten Kohl zurückkehren und mit gleicher souveräner Verachtung wie bisher auf die „Ritter vom Fleische“ herabschauen werden. Denn kein Vorurtheil in der Welt ist zäher, als das, welches sich Laie und Laiin auf Grund verschleppter Traditionen und eingebildeter Selbsterfahrungen über die Erfordernisse ihrer Leibeswohlfahrt groß gezogen haben, zumal wenn sich dasselbe mit einem respectablen Mäntelchen bunt zusammengeflickter, halb- oder mißverstandener, halb- oder unpassender physiologischer und pathologischer Lehrsätze herausputzen läßt.

Daß ich trotz alledem das bezeichnete Thema gewählt habe, hat einen doppelten guten Grund. Einmal hielt ich es für eine Pflicht, den vielfachen Anfragen, welche an mich wie an meine Fachgenossen von Unbefangenen, aber auch mit anerkennenswerther Ehrlichkeit von Vertretern des Vegetarianismus selbst über die Stellung der Physiologie zu dieser Lehre ergangen sind, öffentlich zu antworten; zweitens – und das lassen Sie mich besonders betonen – verdient diese Lehre in mehrfacher Hinsicht eine ruhige achtungsvolle Kritik. Es ist kein gewöhnlicher Humbug, keine betrügerische Speculation von Charlatanen, kein Mesmerismus, kein Gallismus – auch kein Impfprotest. Es liegt unter ihrer Spreu manch’ Körnlein gesunder Wahrheit und vor Allem ein tiefer sittlicher Ernst, dem wir unseren Respect nicht versagen dürfen. Indem ihre Jünger in vollster Ueberzeugung einer „natürlichen Bestimmung“ des Menschen zu folgen glauben, und eine sittliche Genugthuung darin finden, ihrer Abneigung gegen die Vernichtung fremden Lebens zur Erhaltung des eigenen gerecht zu werden, machen sie am eigenen Leibe mit mancher herben Entsagung die Probe auf ihr Exempel. Nicht in den Motiven, nicht in der Art der Ausübung liegen die Schwächen des Vegetarianismus, sondern in einer unglücklichen Verschmelzung von Wahrem und Falschem und Entstellung von Wahrem zu Falschem in seinen Grundsätzen, in einer durch und durch den Dilettantismus verrathenden Einseitigkeit, Oberflächlichkeit und Mangelhaftigkeit der angestrebten Beweisführung, endlich in der praktischen Unmöglichkeit seiner allgemeinen Durchführung.

Wie lautet nun das Programm der Vegetarianer? Wenn diese Herren nichts weiter behaupteten, als etwa Folgendes: wir kleines Häuflein Sonderlinge haben in Sachen unserer Leibesnahrung für uns beschlossen, ausschließlich von Pflanzenspeise (und allenfalls Milch) zu leben, uns Alles, was vom getödteten Thiere stammt, sowie jedes sogenannte Reiz- und Genußmittel, als da sind: Kaffee, Thee, Bier, Wein, Salz, Pfeffer und dergleichen, zu versagen, weil uns speciell diese (Notabene für unseren Geldbeutel äußerst zuträgliche) Kost, wenn wir uns (mit oder ohne heimliche Ueberwindung) daran gewöhnt haben, behagt, weil uns unsere und unserer Vorgänger Erfahrung lehrt, daß wir dabei ohne merkliche Beeinträchtigung unseres leiblichen und geistigen Wohlbefindens bestehen können, weil unser Gefühl uns verbietet, Veranlassung zur Tödtung lebensberechtigter Thiere zu geben (soweit wir nicht ihrer Haut zur Bekleidung unserer Gehwerkzeuge bedürfen), – wenn, sage ich, darauf das Programm sich beschränkte, so ließe sich nicht viel dagegen einwenden. Wir hätten dann nicht einmal Veranlassung, von ihnen den schwer beizubringenden Beweis zu fordern, daß sie sich besser befinden, als ein mäßiges Menschenkind, welches mit sogenannter gemischter Kost sein Dasein fristet. Aber so zahm und bescheiden ist der Vegetarianismus nicht. Er gebietet dilatorisch: Alle Menschen auf Erden müssen zu ihm übertreten, weil die von ihm vorgeschriebene Lebensweise die einzig gesunde, von Gott und Natur für alle Kinder Eva’s bestimmte sei. Er behauptet, die Autorität Cuvier’s als Medusenhaupt vorhaltend, die ganze Organisation des Menschen, insbesondere die Einrichtung seiner Verdauungswerkzeuge, der Zähne und des Darmcanals sei unzweideutig die eines ausschließlichen Pflanzenessers, wie die des menschenähnlichsten Thieres, des Affen, welcher factisch nur von Vegetabilien sich nähre. Er behauptet, die Pflanzenkost und zwar nur die Pflanzenkost bei Vermeidung aller, auch vegetabilischer Reizmittel biete dem Menschen alle Bedingungen zu einem völlig normalen Ablauf seiner Lebensprocesse, möglichste Sicherheit vor krankhaften Störungen derselben, Garantie für ein hohes Alter in leiblicher und geistiger Gesundheit, wie einem gesunden Menschenverstand eigentlich ohne Weiteres einleuchten müsse, zum Ueberfluß aber noch durch eine bis auf Pythagoras den Weisen und weiter zurückzudatirende Erfahrung und das Experiment am eignen Leibe bewiesen werde.

Nun die Kehrseite des Programms! Der strenge Vegetarianismus verwirft absolut alle animalische Kost, der gemilderte, da das Abstellen und Verurtheilen von Milch, Butter und Käse eine äußerst mißliche Sache ist, nur Alles, was vom getödteten Thier stammt, vor Allem das Fleisch. Warum? Aus drei gewichtigen Gründen: erstens, weil es eben nicht Pflanze, d. h. nicht das Material, für welches angeblich unser Speiseapparat eingerichtet ist, zweitens, weil es „unmoralisch“, ja „kannibalisch“, ein Thier zu tödten, um es zu verzehren, und drittens, weil das Fleisch und Alles, was dazu gehört, ein furchtbares, wenn auch schleichendes Gift für Leib und Seele! Ja, meine Damen und Herren, jedes echte Haar sträubt sich zu Berge, wenn wir lesen, welche Legion scheußlicher Gespenster die Vegetarier aus dem Fleischgenuß über uns „Sarkophagen“[1] – das ist ihr Lieblingsschmeichelwort für uns – heraufbeschwören. Der erste Schluck Bouillon, den man uns als Kindern eingeflößt, war das kleine Steinchen, um welches die rollende Zeit eine Lawine verderblicher Genüsse zusammengeballt hat, welche schließlich Leib und Seele begräbt. In jedem Stückchen Fleisch lauern nicht allein Trichinen und Bandwürmer, Typhus und Schwindsucht und das ganze Heer der Menschenpestilenzen, begierig den Leib zu vernichten, den wir durch die verbotene Speise in ein „Gefäß der Fäulniß“ verwandelt haben, nein, wer Fleisch ißt, riskirt noch weit Aergeres. Ein solches „Menschenraubthier“ wird zum Gourmand, zum Schlemmer, zum Säufer, zum Wüstling, zum Verbrecher! Die Logik dieser entsetzlichen Stufenleiter klingt etwa folgendermaßen: Alle Nahrungsmittel sind Reizmittel, die natürlichen, d. h. eben die, welche die Vegetarier so nennen, gesunde, nützliche, die „unnatürlichen“, in erster Reihe das Fleisch, ungesunde, – von den Beweisversuchen dafür später!

Wer einmal ein Reizmittel genießt, dem geht es, wie bei jeder Sünde, er bleibt dabei nicht stehen, er greift nach weiteren, immer kräftigeren, immer verderblicheren. Er greift zum Salz und zum Pfeffer, und da wir weder als Seekrebse noch als Pfefferfresser organisirt sind, werden diese harmlosen Gewürze, zu denen der „Instinct“ alle naturwüchsigen Völker treibt, selbst in mäßiger Gabe zum Gift. Er greift weiter zum Essig, zum Thee, zum Kaffee, zum Tabak und endlich, indem er sich vom letzten Rest natürlicher Menschlichkeit häutet, – zum Spiritus. Das gesalzene und gepfefferte Fleisch, drastisch durch eine Portion „Gulasch“ repräsentirt, macht Durst; solchen Durst löscht nicht mehr Wasser, Limonade und Mandelmilch, nur Wein, Bier, Schnaps! Und nun verlassen den verpesteten Leib, wie die Ratte das sinkende Schiff, alle guten Geister, nun ziehen sie ein in die verfallende Ruine, die Siechthümer, Blödsinn, wilde Leidenschaften, „carnivore Rohheit“, Irreligiosität und die ganze bunte Sippe der Laster. Daher alle die schwere Noth der Zeit, die mit dem Aufblühen der Cultur wachsende körperliche und moralische Verkommniß, die steigende Hochfluth der Verbrechen, die Zunahme des Wahnsinns, der Selbstmorde etc. etc. „Es ist noch lange nicht vorüber, ich kenn’ es wohl, so klingt das ganze Buch!“ Und woher das Heil? Woher die Abwehr des allgemeinen Menschenbankerotts, die Erlösung für die „verweichlichte, lasterzerfressenen Völker“? Nur in der Rückkehr zur natürlichen Lebensweise, zum Vegetarianismus!

Wer da meinen sollte, ich habe übertrieben oder entstellt, der lese einmal die Tractätchen des Herrn Th. Hahn, und er wird meine Skizze matt und farblos finden gegen die blendenden, saftigen Knalleffecte, mit welchen dieser „Naturarzt“ zu malen versteht. Ueberall findet er bis zum Ueberdruß dem engelreinen Mustervegetarianer gegenüber die ekelhafte Carricatur eines wüsten Schlemmers auf die Wage geworfen, was allerdings wohlfeiler und weit effectvoller ist, als eine objective Abwägung der Vegetarier gegen die Millionen schlichter Menschenkinder, welche mäßig von gemischter Kost leben, und von den verpönten Reizmitteln die wirklich schädlichen entweder meiden oder in bescheidener Dosis genießen. Und Angesichts solchen Gebahrens der Vorkämpfer des Vegetarianismus müssen wir, die wir mit gerechtem wissenschaftlichen Maße messen wollen, es uns bieten lassen, daß ein anderer Prophet dieser Confession uns zuruft: „Wer bei leidlich gesunden Sinnen den Inhalt der Hahn’schen Schriften durchdenken kann und im Wesentlichen nicht von der Richtigkeit (d. h. der ausschließlichen Richtigkeit) der

  1. Wörtlich: „Fleischfresser“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_455.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)