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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ihr nachblickend; „sie sieht ganz darnach aus, ehemals ein ganz schmackhaftes Gemüse gewesen zu sein, jetzt aber ist sie in einen häßlich dicken Teig von langweiliger Förmlichkeit eingebacken. – Also Gäste hätten wir – desto besser – Joseph, geh’ und hole mir die große Mappe mit den Pergamenten voller Wappen aus der Bibliothek – ich will in den alten Aufschwörungen und Stammbäumen nachschauen, wie wir mit den Marillacs verwandt sind … solch’ einem französischen Vicomte gegenüber darf man nicht verrathen, daß man in der Genealogie seines Hauses so unbeschlagen wie ein friesischer Milchesel ist.“




4.

Am andern Tage, Vormittags, standen die Balconthüren des Saales mit den Landschaftstapeten weit offen und ließen die sonnige warme Luft hereinströmen; auf dem runden Tische inmitten des Raumes prangte schweres altes Silbergeräth; schöne alterthümliche Humpengläser mit darin geschliffenen Wappen und Sprüchen, und japanisches Porcellan; er trug das Frühstück, bei welchem der Jäger Joseph bediente, während ein alter Diener mit gepudertem Kopf und im schwarzen Anzug eines Hausofficianten den Buffettisch mit seinen Vorräthen an Silber und Karaffen und Flaschen unter seiner Obhut hatte. Am Tische saß Graf Ulrich Maurach, neben sich seine zwei Gäste, der Vicomte de la Tour rechts und links seine Tochter, die der letztere mit dem Namen Melusine de la Tour de Bussières vorgestellt hatte.

Graf Ulrich Maurach machte mit einer Unbefangenheit und einer Formlosigkeit den Wirth, die doch seinen Gästen ein gewisses gezwungenes Wesen nicht nehmen konnte. That es eben diese etwas rücksichtslose Weise des Hausherrn, sich zu geben und auszusprechen, welche den zierlich gebauten und ceremoniösen alten Herrn aus Frankreich verschüchterte, oder that es die hohe gesteifte Halsbinde, in welcher nach der Mode der Zeit sein Kopf stak – er saß steif da, sprach wenig, aß wenig und beobachtete viel mit den lebhaften braunen Augen, die ganz das Widerspiel von denen des Grafen waren; dessen Augen schauten mit ruhiger Stetigkeit, nur zuweilen aufglühend, unter starken dunklen Brauen hervor; die des Vicomte waren flachliegend, und stets bewegt schienen sie Alles wahrzunehmen, was um ihn her vorging. Man konnte annehmen, daß er am Ende des Mahles ein Inventarium jedes Stückes des Geräths, der aufgestellten Flaschen, der Speisen und nicht minder der gesprochenen Worte im Kopfe habe.

Erfüllte ihn dieser Reichthum, der ihn umgab, dies schöne Schloß mit seiner Aussicht in die herrliche sonnige Landschaft, über reich angebaute Fluren, die, so weit sein Auge ohne Brille und Fernrohr reichte, seinem glücklichen Wirthe gehörten, mit einem inneren Neide, der gestachelt war durch den Gedanken an das, was er einst daheim besessen, und vielleicht unwiederbringlich verloren?

Gewiß, man hätte ihm nicht zu sehr darüber zürnen können, denn er befand sich, wie er dem Hausherrn bereits gestanden, in der hülflosesten Lage von der Welt. Er wußte, daß von seinen ehemaligen Besitzungen in Berry die eine, die unbedeutendste und geringfügigste, noch nicht als Nationaleigenthum von den Machthabern von Frankreich veräußert sei; daß er Hoffnung habe, sie zurückerstattet zu bekommen; aber es fehlten ihm alle Geldmittel, die Ministerialbeamten in den Bureaux zu Paris, von denen eine solche Rückgewährung abhing, sich geneigt zu machen, ja, es fehlten ihm die Mittel, nur einige Wochen in Paris zu leben, wenn er sich auch in sparsamster Weise bis dahin durchgeschlagen habe.

Bei der Auseinandersetzung dieser Verhältnisse hatte vielfach seine Tochter Melusine, des Vaters ein wenig verworrenen Vortrag ergänzend und erklärend, das Wort genommen; ihr edles blasses Gesicht hatte sich dabei leicht erröthet, und während Graf Ulrich Maurach es mit bewunderndem Wohlgefallen angesehen, hatte er sich doch gesagt: „Dies schöne Geschöpf soll am Ende die Lockente sein, die mir meine gelben Vögel aus der Schatulle lockt! Wir kennen das! Ich werde mich hüten, mich umstricken zu lassen.“

Schön war sie in der That, Demoiselle Melusine de la Tour de Bussières. Sie hatte eigentlich mehr einen deutschen, als einen französischen Typus. Vielleicht that es das deutsche Blut, welches in ihren Adern rollte. Vorzüglich schön war der obere Theil ihres Gesichts, die hohe Stirn, die großen von den breiten Lidern halbbedeckten blauen Augen, die zierliche längliche Nase, das feine Oval der Wangen, an denen zwei starke Flechten hellbraunen Haares niederhingen, um, das zierliche Ohr bedeckend und hinten zusammenlaufend, sich in einen hohen Chignon zu verschlingen. Der untere Theil des Gesichtes mit den schwellenden Lippen war vielleicht ein wenig zu stark ausgebildet, um dem Ganzen seine harmonische Schönheit zu lassen. Das Kinn kündigte Energie an, und die Farbe, ein leiser gleichmäßig vertheilter olivenfarbener Ton, war es allein, was dem Gesichte im Lande blonder und rosiger Schönheiten etwas Fremdartiges gab.

Die junge Dame hatte ein außerordentlich wohltönendes Organ, so metallrein; sie mußte ohne Zweifel eine schöne starke Singstimme haben. Sie sprach meist in kurzen Sätzen, mit einer gewissen Bestimmtheit. Dabei ruhte ihr Auge fast unausgesetzt auf dem Vater; sie schien ihn mit unnachlassender Sorge im Auge zu halten; Graf Ulrich glaubte auch ein paar Mal zu bemerken, daß sie durch leises Kopfwinken ihn ermunterte oder abhielt, von den dargebotenen Speisen zu nehmen.

Der verwandtschaftliche Zusammenhang war zuerst erörtert worden. In Ulrich’s Cabinet lag noch die Mappe mit den Stammbaum-Pergamenten, den Aufschwörungsbriefen voll Wappenbildern in Gold und Silber und bunten Tincturen geöffnet auf dem Tische.

Man hatte ermittelt und klar gestellt: Graf Walram Maurach-Maurach, der letzte Besitzer der Herrschaft, der vor drei Monaten gestorben und sein Erbe seinem Lehnsvetter von der Linie Maurach-Godeneck, die bisher in Oesterreich seßhaft gewesen, hinterlassen, hatte keinen Verwandten gehabt, als eine Base, eines Oheims einzig überlebende Tochter, die jedoch wie todt oder vom Stamme abgeschnitten in dem jüngsten Pergamente durchstrichen stand. Graf Ulrich gab über ihr Ende keine weitere Auskunft; sie mußte nicht mehr unter den Lebenden sein. Sodann war ein Urgroßoheim des letzten Besitzers, der sich in Frankreich vermählt, auch dort gestorben; er hatte zwei Söhne, die ebenfalls längst todt, und eine Tochter hinterlassen, welche einen Baron Marillac in Berry geheirathet hatte, und deren Tochter war die Mutter des Vicomte de la Tour. Ulrich’s Gast, der Vicomte, der eine Gräfin Maurach-Maurach zur Mutter gehabt, war also allerdings mit dem verstorbenen Grafen Walram verwandt. Mit dem Schloßherrn Ulrich Maurach-Godeneck war er kaum mehr verwandt zu nennen, denn dessen Linie hatte sich schon vor längerer Zeit, schon im dreißigjährigen Kriege von der Hauptlinie getrennt; Ulrich hatte als Stamm- und Lehnsvetter die Herrschaft in Besitz genommen.

„Es ist gut,“ hatte der Vicomte hingeworfen, „daß der Vetter Walram auch nicht einmal eine weibliche Seitenverwandte hinterlassen hat; denn die jetzt hier eingeführte französische Gesetzgebung hat die alten Lehens- und Fidei-Commiß-Verhältnisse sämmtlich aufgehoben und beseitigt …“

„Und so wäre alsdann nicht ich Erbe geworden,“ fiel Graf Ulrich ein, „sondern“, setzte er mit einem Blicke auf den Stammbaum den Namen suchend hinzu, „diese durchstrichene Verwandte Ernestine von Maurach – vielleicht, heißt das, denn wer weiß es, solche Erbrechte sind gewöhnlich verwickelt!“

Er hatte dies völlig unbefangen hingeworfen und dabei nicht bemerkt, wie unruhig bewegt des Vicomte und wie forschend seiner Tochter Auge auf ihm lag.

„Ich hoffe,“ fuhr nach einer Weile der Vicomte fort, „Sie versagen mir eine große Gunst nicht, nämlich die, von diesen alten Stammbäumen Abschrift nehmen zu dürfen und sie als richtig und mit den beschworenen genealogischen Schemen übereinstimmend von einem Notar beglaubigen zu lassen.“

„O nein, gewiß nicht,“ versetzte Graf Ulrich. „Wenn es von Werth für Sie ist, so beginnen Sie damit, was Sie wollen. Und da dies nicht die Arbeit eines Tages ist, gewährt es mir die Aussicht, Sie länger an mein Haus als Gäste gebunden zu sehen, was mir ein sehr großes Vergnügen sein wird.“

Die junge Dame erröthete, als sie antwortete: „Wir werden diese Güte gewiß nicht mißbrauchen. Wenn Sie es erlauben, werde ich selbst schon heute beginnen, die Abschriften zu machen, die mein Vater zu besitzen wünscht; hoffentlich werde ich sie auch heute schon zu Ende bringen.“

„Das würde ich bedauern. Wir finden schon irgend Jemanden im Dorfe, der die Arbeit macht; Ihnen selber, Mademoiselle, sie zuzumuthen wäre doch sehr unritterlich von uns. Unterdeß erlauben Sie mir, während der Nachmittagsstunden Ihnen das Gut zu zeigen, und morgen, denk’ ich, fessele ich Ihren Herrn Vater,

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