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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Im Zimmer Nr. 3 wohnt Mrs. Cobb, welche ein prachtvolles Haus und einen sie anbetenden Gatten in Boston verließ, um im „neuen Jerusalem“ mit einem fast ärmlichen Zimmer und dem neunundzwanzigsten Theil eines Gatten – allerdings eines Propheten – fürlieb zu nehmen. Die anderen Zimmer, welche von den übrigen Frauen Brigham’s, ihren Kindern und Dienstmädchen bewohnt werden, zum Theil aber auch leer stehen, sind einander ziemlich ähnlich und mit derselben Einfachheit ausgestattet. Die Damen leben gerade ebenso wie in einem großen Hôtel: sie besuchen einander sehr wenig, und wenn sie ausgehen so verschließen sie ihr Zimmer und nehmen den Schlüssel mit.

Ueberhaupt gleicht das ganze Leben im „Löwenhause“ dem in einem feinen Hôtel, nur daß man in dem letzteren nicht gemeinschaftlich zu beten pflegt. Beim Klange der Glocke versammeln sich jeden Morgen und Abend sämmtliche Bewohner des „Löwenhauses“ im Sprechzimmer; es wird gemeinschaftlich eine Hymne gesungen, worauf der Prophet ein inbrünstiges Gebet spricht. Nach verrichteter Andacht begiebt sich Alles in den Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Jede Mutter hat mit ihren Kindern einen besondern Tisch, während die kinderlosen Frauen an der gemeinschaftlichen Tafel speisen. In früheren Zeiten speiste der Prophet regelmäßig in Gesellschaft seiner Frauen; jetzt thut er dies jedoch nur selten. Selbstverständlich erhalten Alle dieselbe Kost und haben auch alle Ursache, mit derselben zufrieden zu sein, denn der Prophet hält etwas auf gute Küche und beordert von Zeit zu Zeit einige seiner Frauen zur Führung derselben, die sie so lange verwalten müssen, bis er sie durch andere ablösen läßt. Während des Tages gehen die Frauen aus, nähen, singen, spielen Clavier oder führen ihre Kinder spazieren. Die meisten von ihnen spinnen und weben und färben das von ihnen fabricirte Zeug, und leisten darin so Vorzügliches, daß sie auf ihre Gewebe und Stickereien stolz zu sein alle Ursache haben und es auch sind. Abends geht Alles ohne Ausnahme in’s Theater, in welchem jede der Mrs. Young einen reservirten Sitz hat.

Brigham hält auf gute Zucht, denn er führt über seine Frauen strenge Aufsicht und läßt sie tüchtig arbeiten; aber er entzieht ihnen auch kein Vergnügen; er versorgt sie in liberaler Weise mit Geld, läßt sie bei schönem Wetter ausfahren und ihre Einkäufe besorgen und kleidet sie sämmtlich höchst elegant. Er hält ihnen auch einen Musiklehrer, einen Lehrer der französischen Sprache, einen Tanzlehrer etc.

In der Nähe des „Löwenhauses“ befindet sich der „Bienenkorb“, ein schönes Gebäude, welches fünfundsechszigtausend Dollars gekostet hat, und in welchem früher Brigham’s erste Frau mit ihren Kindern wohnte. Jetzt steht es jedoch unter Aufsicht von Lucy Decker, welche darin eine Art Kosthaus für die von Young beschäftigten Arbeiter eingerichtet hat. – Ann Angell aber, die erste Gattin Brigham’s, vertrauert inmitten ihrer Söhne und Töchter den Rest ihres an Kränkungen und Bitterkeiten so reichen Lebens in einem auf einem Hügel hinter dem „Bienenkorb“ stehenden weißen Hause. – Dies ist der Haushalt des großen Mormonen-Propheten Brigham Young.




Ein klerikaler Industrie-Ritter.

Vor etwa zehn Jahren erschien von der Hand des Professors der Nationalökonomie an der katholischen Universität Löwen, Périn, ein Werk, in welchem dieser Gelehrte die ganze Volkswirthschaftslehre auf katholischen oder vielmehr klerikalen Grundsätzen aufzubauen suchte. Trotz aller Eleganz der Form und Gewandtheit der Darstellung lagen aber die Trugschlüsse, auf welche die ganze Beweisführung beruhte, offen zu Tage; denn der fromme Verfasser kam, von allem Uebrigen abgesehen, durch die Thatsache, daß gerade protestantische Länder den höchsten Grad wirthschaftlicher Blüthe erreicht haben, während Spanien, Italien und die südamerikanischen Staaten doch die sprechendsten Beweise des Gegentheils waren, in nicht geringe Verlegenheit, über die er sich eben nur durch jesuitisch-scholastische, logische Spielereien weghelfen konnte. W. Roscher in Leipzig, der hervorragendste und gelehrteste aller jetzt lebenden National-Oekonomisten, hat seiner Zeit sich der Mühe unterzogen, die Anmaßungen der klerikalen (?) Wissenschaft von diesem Gebiete ein für alle Mal zurückzuweisen und dies in so ernster und nachdrücklicher Weise, daß man seit dieser Zeit auf wissenschaftlichem Gebiet von keinem zweiten derartigen Versuch mehr gehört hat.

Dagegen wurde einige Jahre später in demselben Lande, in Belgien, ein auf großartigem Fuße angelegter Versuch gemacht, diese Grundsätze praktisch zu verwerthen. Das gesammte Capital sollte katholisirt und den Händen der Protestanten und Juden entzogen werden. Das ganze Unternehmen endete mit einer Niederlage, wie die Welt auf finanziellem Gebiete seit dem Zusammenbruche der Law’schen Schwindelgeschäfte keine zweite gesehen; und noch jetzt, da wir diese Zeilen schreiben, ist das Drama, das sich eben vor den belgischen Gerichten abwickelt, nicht zu Ende. Die ganze Begebenheit ist nur eine neue Illustration der alten Jesuitenregel, daß der Zweck die Mittel heiligt, und aus der Darstellung der nun folgenden Thatsachen mag man den Schluß ziehen, welcher Mittel die klerikale Partei, wenn sie die Herrschaft einmal erlangt hat, sich bedienen würde, um diese zu behaupten.

Der Träger der oben genannten Idee der Katholisirung des Capitals ist der in den letzten Jahren vielgenannte, oder besser berüchtigt gewordene, päpstliche Graf Langrand-Dumonceau, vor wenigen Jahren noch der mächtigste und einflußreichste Mann Belgiens, verehrt und beinahe angebetet von den höchsten Ständen und jetzt verflucht vom Volke, vom Bauer und vom Arbeiter, die er um ihren sauren Sparpfennig betrogen.

André Langrand – dies ist sein ursprünglicher Name, Dumonceau ist der Name seiner Frau, den er seinem eigenen noch hinzufügte, um dem gräflichen, ihm vom Papst verliehenen Titel ein würdiges Relief zu geben – ist der Sohn eines armen Krughalters in Vossen, einem Dorfe der Provinz Süd-Brabant. Seine Jugend verfloß unter manchen Entbehrungen, und als ihm seine heimatlichen Verhältnisse zu enge wurden, nahm er Dienst bei der französischen Fremdenlegion in Algier, wo er in einigen Gefechten mit Auszeichnung gefochten haben soll. Nach seiner Rückkehr in’s Vaterland fand er eine Anstellung bei einer Versicherungs-Gesellschaft, wodurch er in vielfache Berührung mit Mercier, dem früheren belgischen Finanzminister, kam, demselben Minister, der zuerst der College des liberalen Ministers Rogier war, um später ein Portefeuille von Deschamps anzunehmen und von einem Liberalen zu einem in der Wolle gefärbten Klerikalen zu werden. In dieser Schule lernte Langrand die Wechselbeziehungen zwischen der Politik und finanziellen Unternehmungen, besonders auch die Kunst, wie man das Geld nicht sparen dürfe, um ein politisches Ziel zu erreichen, indem ja, wenn letzteres wirklich der Fall war, das erste zehnfach wieder verdient werden könne. Als selbstständiger Geschäftsmann debutirte er bald darauf mit der Errichtung einer Lebens-Versicherungs-Gesellschaft; das Capital der Unternehmung war bescheiden, der Prospect sowie die Geschäftsführung waren ehrlich und der Gewinn ein mäßiger.

Bald darauf trat er mit großartigeren Plänen vor die Oeffentlichkeit. In kurzer Aufeinanderfolge errichtete er drei Gesellschaften: „Les rentiers réunis“ mit einem Capital von fünfhunderttausend Franken, die „Royale belge“ mit drei Millionen Franken und „Nederland“ in Amsterdam mit einer Million Gulden, lauter Lebens-Versicherungs-Gesellschaften, an deren Spitze jedesmal Langrand selbst stand. An und für sich waren diese Unternehmungen nicht unsolid, es war dies auch der Grund, weshalb sie nur mäßige Dividenden abwarfen.

Nun begannen ihm aber die Grenzen seines Vaterlandes zu enge zu werden. Er richtete seine Blicke auf Oesterreich und die Niederlande. Im Jahr 1859 gründete er in Wien mit einem Actiencapital von zwanzig Millionen Gulden die „Vindobona“, eine Hypotheken-Versicherungsbank, und bald darauf, im Jahr 1861 in Amsterdam die „Nederlandsche Hypotheekbank“, ebenfalls mit einem Capitale von zwanzig Millionen Gulden; beide Banken hatten zunächst den Zweck, die Zinsbezahlung und die regelmäßige Ablösung der Hypotheken zu versichern. Von diesem an und für sich ganz soliden Geschäft, das viele Bankinstitute in Deutschland mit großem Gewinn betreiben, zum Kauf und Verkauf von Hypotheken selbst war dann freilich nur noch ein Schritt. Langrand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_425.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)