Seite:Die Gartenlaube (1870) 419.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Zügen, der hohen schmalen Stirn und den leuchtenden blauen Augen nicht weniger anziehend und gewinnend.

Annette setzte sich und fast heftig antwortete sie dabei: „Wenn ein so großer garstiger Stoßvogel wie Ihr es nicht zu Stande bringt, ihm die Mucken abzufangen, was kann ich kleine Schwalbe dann? Aber ich glaube, Ihr seid es just, der mit seinen bösen Reden ihm die Grillen in den Kopf setzt. Seit sie Euch hierher geschickt haben, um hier unsere gottlose Gemeinde durch Euer Beispiel zu erbauen, ist er ganz melancholisch geworden, der arme Caplan – nicht wahr, Caplan, der böse Pastor da wäre im Stande, Einen mit seinen verwegenen Reden um alle Frömmigkeit und allen Glauben zu bringen – das heißt, wenn der Herr Pfarrer nicht da ist, denn wenn der zugegen ist, ist er hübsch still und thut, als ob er nicht so weit zählen könne wie der heilige Simplicius, der es bis zu fünf brachte.“

„Sie thun mir Unrecht, Demoiselle Schwalbe,“ fiel der Pastor ein, „ich gehe nie darauf aus, Jemand irgend einen Glauben zu nehmen – wäre auch bei Euch Beiden sehr unnütz, den Glauben an Euch würde man Euch doch nicht erschüttern können – ist’s nicht so?“

Er sah lachend von Einem auf den Andern.

„Ganz so ist’s,“ versetzte die Thurmschwalbe unbefangen und trotzig ihre Lippen aufwerfend. „Ich werde immer dem Caplan mehr glauben als dem, was Ihr sagt. Laßt nur einmal hören, was Ihr eben behauptet habt und was der Caplan – worüber strittet Ihr?“

„Der Caplan behauptet, die Religion sei für die Guten da, und ich, sie sei um der Schlechten willen da.“

Annette sah fragend den Caplan an, als ob sie erwarte, daß er seine Behauptung vertheidige.

„Die Menschenseelen sind Blumen,“ sagte der Caplan mit einer leisen, wie etwas beklommenen Stimme. „Die schlechten aber öffnen sich nie. Es ist nicht genug warmer Trieb in ihnen, oder es ist ein Wurm in sie gekommen, der die Herzblätter zernagt. So öffnen sie nie den Kelch. Nur die Guten öffnen den Kelch und blühen und aus ihnen empor zieht der Duft. Der Duft der Menschenseele ist die Religion. Nur die guten Menschen haben sie.“

Annette sah mit sinnigem Blick den jungen Geistlichen an, der unter diesem Blick wieder leicht erröthete. Der Pastor fiel ein: „Gut, daß der Herr Pfarrer nicht da ist; er würde in des Caplans Zimmer gehen und nachschauen, ob da nicht Jean Paul’s Romane versteckt seien. Der Duft der Menschenseele ist die Religion? Wenn, was Sie sagen, Confrater, wirklich eine Stelle aus Jean Paul sein sollte; so steht’s gewiß nicht so da, sondern statt Religion steht da Liebe! Habe ich Recht?“

„Ach, der Caplan ist selbst gescheidt genug,“ rief hier die Thurmschwalbe aus; „er braucht nicht nachzuschwätzen, was in protestantischen Büchern steht.“

„Und wenn er gescheidt ist, schwätzt er gewiß nicht nach, was in katholischen steht,“ antwortete sarkastisch der Pastor und schlug dann, als ob er eine Aeußerung, die ihm entschlüpft, damit überdecken oder für eine Ironie ausgeben wolle, eine helle Lache auf. „Ich bleibe aber dabei,“ fuhr er dann fort, „die Religion ist nur der Schlechten wegen da, denn Adam im Paradiese ist weder mit den zehn Geboten, noch mit Beichten und Fasten belästigt worden. Erst als er gesündigt hatte und hinausgeworfen wurde, fing das an, und so ist mit der Sünde der Tod und das Religionswesen in die Welt gekommen. Der gute Adam! Er war so glücklich! Er hatte keinen Arzt, keinen Richter und keinen Beichtvater nöthig; er war so unverschämt gesund, so dumm, brav und so einfältig. Er aß so vergnügt seine Aepfel. Da sollte es plötzlich eine Sünde sein, einen Apfel zu essen; das unschuldigste Ding auf der Welt sollte eine Sünde sein! Natürlich kehrte sich der brave dumme Mensch, der die Falle nicht ahnte, daran nicht; und nun hatte die Schlange gewonnenes Spiel. Nun hatte Adam eine Sünde begangen, und nun stand der Weizen aller Derer in Blüthe, die davon leben, daß gesündigt wird. Ja, ja, man hatte glücklich einen Sünder gemacht und – die Kunst ist seitdem nicht untergegangen – Ihr könnt mir’s glauben, Ihr argloses junges Volk, Ihr, das nicht weiß, wo Barthel den Most holt! Die Kunst ist nicht untergegangen. Der größte Künstler in dem Fach war der edle Hildebrandt. Der hat’s verstanden, Sünder zu machen, Sünder zahlreich wie Sand am Meere, Gräuel und Abscheulichkeiten, wie sie vor ihm die Welt nicht kannte! Er war ein großer Heiliger, Papst Gregor …“

„Ihr sprecht ärgerliche Dinge aus Eurem tiefen Unglauben heraus, Pastor,“ fiel ihm hier der Caplan in’s Wort.

„Ja, Ihr seid ein recht böser Mann, Ihr verspottet Alles,“ setzte die Thurmschwalbe hinzu. „Ihr glaubt nicht an Gott und, was just ebenso schlimm ist, auch nicht an die Menschen.“

Der Pastor sah sie lächelnd an; es machte ihm offenbar Vergnügen, mit seinen bösen Reden die jungen Leute zu reizen.

„Es ist wahr,“ sagte er, „ich habe zum Glauben nicht viel Talent, ich bekenne es ja und habe mich still und demüthig gefügt, als mir das hochwürdige Consistorium deshalb meine Pfarrei und Seelsorge genommen hat, um hier mit Würde meine Rolle als demeritirter Pastor zu spielen. Ich glaube nicht an Gott, nicht an die Menschen, sagt Ihr? Ich glaube nur nicht an den Teufel; und an Euch glaube ich, Demoiselle Annette, so lange Ihr so hübsch und jung seid, und an unsern Caplan hier, so lange er so lieblich erröthet und so still selig aussieht, wenn er Eure Flügel heranschwirren hört. So lange glaube ich an Euch, länger auch nicht, denn ich glaube an den Menschen, so lange er glücklich ist, an den unglücklichen nicht mehr!“

„Das ist unrecht,“ rief Annette rasch und lebhaft in der Verlegenheit, worin des Pastors häßliche Scherze sie versetzten, aus, „erst wenn der Mensch unglücklich ist, wird er recht gut, dann erst zeigt er seine guten Eigenschaften, seine Geduld, seine Sanftmuth, seine Pflichttreue, seine Stärke, sein Gottvertrauen.“

„Gewiß,“ setzte der Caplan hinzu, „und ohne Prüfung ist kein Verdienst.“

Der Pastor blinzelte mit den Augen. „Liebe Kinder,“ sagte er sarkastisch, „wenn’s so im Katechismus steht, so will ich mich nicht dawider auflehnen. Ihr sollt Recht haben. Seht Ihr dort die Stockrose hinter Euch, Caplan? Sie läßt die Blätter hängen, denn Ihr habt sie gestern dahin gepflanzt und heute nicht begossen. Wenn Ihr sie begießt, so wird sie wachsen und eine Fülle schöner rother Blüthen tragen. Wenn Ihr sie nicht begießt, so wird sie verkommen und verdorren. Ich denk’, mit den Menschen wär’ es auch so. Die Sonne, Licht und Pflege haben, werden ordentliche Pflanzen, und die andern, die das Schicksal in dürres Erdreich stellt, verkommen. So ist es. Wen man zum Sünder macht, der wird zum Sünder, und wen das Schicksal besser pflegt als der Caplan seine Stockrose, der wird eine gute Pflanze. Das glaube ich – Ihr seht, Demoiselle Annette, ich bin nicht so schlimm, wie es aussieht, und glaube wenigstens an einen Theil der Menschen, die Glücklichen – wenn ich so arg wäre, wie es Euer Katechismus ist, dann würde ich nicht einmal so viel Gutes von den Menschen denken, denn da steht geschrieben, daß wir alle sammt und sonders Elende sein, nichts wie armselige Maden im großen Sündenschlamme der Welt, ekelhaft Gewürm, Fraß für die große Schlange, die im Staube auf dem Bauche kriecht!“

Der Pastor lachte hier höhnisch auf und führte sein Bierglas zum Munde.

„Es ist dem, was Ihr da von den Menschen sagt, nicht so,“ nahm der Caplan kopfschüttelnd das Wort. „Es mag wahr sein, daß das Unglück schlecht machen kann – aber doch nur die schwachen, kleinen und untergeordneten Naturen. Sie mögen durch Leiden verbittert werden, durch den Kampf die Schwungfähigkeit ihrer bessern Natur verlieren und sich hinabdrücken lassen in den Schmutz des Alltagdaseins, bis sie die Fähigkeit verlieren, sich aus ihm zu retten. Sie mögen eine Rechtfertigung schlechten Handelns finden im schlechten Handeln der Welt wider sie; eine Befriedigung der Rachsucht im Groll und im Beschädigen – und gewiß ist es wahr, daß Sünder und daß Verbrecher sehr oft gemacht werden. Aber gute und starke Naturen hebt und stählt der Kampf; das Leid läßt ihren Goldwerth erst recht erglänzen, wie die Reibung das Metall polirt; das Unglück erzieht und läutert die tüchtigen Menschen, es verdirbt nur die schwachen!“

„Sehr weise gesprochen,“ sagte der Pastor, „aber …“

„Nun laßt doch den Streit ruhen,“ fiel die Thurmschwalbe ein, „sagt mir lieber, wer die Fremden sind, welche der Herr Pfarrer zum Schlosse gebracht hat und die gleich in eine so angelegentliche Unterredung mit meinem Mütterchen gerathen sind.“

„Wir wissen es nicht,“ versetzte der Caplan. „Sie kamen in einem Einspänner von A. und hielten vor der Pfarrei, wo sie den Herrn Pfarrer zu sprechen verlangten.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_419.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)