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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 27. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
I.

Es war ein feuchtwarmer, außerordentlich schöner Maiabend; alle Hecken standen grün, alle Obstbäume blühten; ihre Wipfel und Aeste trugen so viele Blüthen wie ein junges Menschenleben Hoffnungen – aus den wenigsten wird etwas, und so ist’s mit den Apfelbaumblüthen ja leider auch.

Das focht aber sicherlich nicht die „Thurmschwalbe“ an, das rosige junge Mädchen, das mit einem Strickstrumpf von respectabler Länge und Weite auf einer Terrasse unter dem Laubdach prachtvoller, eben grün gewordener Kastanien auf und ab ging und dabei ein Lied trällerte. Siebenzehn Jahre mochte sie haben, die „Thurmschwalbe“; dazu hatte sie ein reizendes feines Gesicht mit einem gebogenen Näschen, schelmischen dunklen Augen, über welche sich auffallend lange Wimpern senkten, wenn sie auf ihre Arbeit niederblickte, und üppiges, glänzend schwarzes Haar, das ein wenig nachlässig am Hinterhaupt zusammengeknotet war; die Gestalt war schlank und zierlich; sie hob sich im Gehen wie tänzelnd bei jedem Schritt auf den Zehen und dabei trällerte sie ein Lied, still für sich, nur zuweilen schmetterte sie mit ihrer hohen, noch ziemlich dünnen Stimme ein paar Noten laut heraus, wie eine Lerche, die etwas aus sich herausjubeln muß.

Ihre Kleidung war sehr einfach, gar nicht so vornehm wie ihr feines Gesicht; sie trug ein kurzes Kattunkleid, wie es Mode war im Anfang unseres Jahrhunderts, so kurz, daß es die mit kreuzweiß geschlungenen Bändern um die weißen Strümpfe befestigten Lederschuhe sehen ließ, und um die Brust ein auf dem Rücken zusammengebundenes Tuch, ein Fichu, wie man’s nennt.

Warum hieß sie die Thurmschwalbe? Es war leicht erklärt ... einmal weil sie in dem mächtigen alten Thurme wohnte, mit dem hohen verschnörkelten Giebeldach, das die Ecke des alten Schlosses bildete, auf dessen Terrasse sie eben auf und ab ging. In dem obern Stockwerk mit der schönen Aussicht, – man blickte da schon über die Wipfel der Kastanien fort in schöne freundliche Berglandschaft hinein – wohnte sie mit ihrer Mutter, der Frau Wehrangel, einer rüstigen und stattlichen Dame, die einst das ganze Schloßwesen unter sich gehabt hatte, und auch jetzt noch, wenn auch unter veränderten Umständen, darüber waltete; aber davon reden wir später; hier müssen wir nur sagen, daß nur die Leute im Dorfe drüben den Namen „die Thurmschwalbe“ erfunden hatten und gebrauchten, denn Anna war sie getauft und Annette nannte die Mutter sie.

Als das junge Mädchen, am Ende der Terrasse angekommen, sich wandte, nahm sie wahr, daß eine kleine Gesellschaft, aus drei Personen bestehend, auf dem Wege zwischen den Gartenhecken daherkomme, welcher von dieser Seite zum Schlosse führte. Der Hauptweg lag drüben; von dem großen Portal auf der Vorderseite des Schlosses führte er durch eine Ulmen-Allee zum Dorfe. Hier auf der Rückseite des Schlosses, wo die Terrasse an den breiten Wassergraben stieß, konnte man nur, wenn man in einem Nachen über den Graben setzte, auf dem näheren Wege zwischen hohen Hecken in’s Dorf kommen, zunächst zu dem Garten des Pfarrhofs, der nach dieser Seite hinaus lag. Unter den drei Herankommenden war der Herr Pfarrer, ein kräftig gebauter Mann, mit breiter, stark vortretender Stirn, breitem Kinn und wie zusammengedrückten Zügen, ein Gesicht, das viel öfter mürrisch, als freundlich aussah; die beiden anderen Personen, ein alter Mann und eine junge Dame, doch nicht mehr ganz jung, wie es schien, kannte Annette nicht.

Der Pfarrer rief und winkte dem jungen Mädchen; Annette lief rasch zu der vorspringenden Treppenrampe, die in’s Wasser hinausgebaut war und von der rechts und links Stufen in den Graben hinabgingen. Links am Fuße der Stufen lag ein Kahn, zu dem eilte Annette hinab, löste ihn von der Kette und ergriff die Ruder, um den Pfarrer und seine Begleiter herüberzuholen.

Während das junge Mädchen mit den Rudern hantirte und langsam über das stille Wasser herüberkam, stand die Gesellschaft jenseits des Grabens und betrachtete mit neugierigen Blicken das Schloß.

Das war nun freilich des Betrachtens werth. Es war nicht allein stattlich und groß, es war auch schön, im Renaissancestyl gebaut, mit allerlei Bildhauerarbeit um Fenster- und Thürumrahmungen. Nur der breite Thurm rechts war weit älter und aus Hausteinen schlicht aufgeführt; er war in den untern Stockwerken außer von einer schmalen Spitzbogenthür, die unter die Kastanien führte, nur von Schießscharten durchbrochen. Oben aber, über dem Gestock mit den großen, neugebrochenen Fenstern, hatte man ihm einen mächtigen verzierten Giebel aufgesetzt, wie einem Grenadier eine Blechmütze; am Giebelgesimse war dicht nebeneinander eine ganze Reihe Schwalbennester angeklebt; es war, als hätten sich die zierlichen Vögel da in die Hut und den Schutz der Schwester Thurmschwalbe, die darunter wohnte, begeben.

Annette Wehrangel hatte unterdeß von ihrem Kahne aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_417.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)