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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Thiere und brummte: „Jetzt ist schon so lang’ eingespannt und es geht doch nicht fort – ich will keine Schuld haben, wenn die Ross’ verschlagen in der Kälten …“

„Es ist auch wahr,“ sagte der Wirth, sprang in den Wagen und ergriff Zügel und Peitsche. „Wär’ schon der Müh’ werth, wenn wegen dem Gered’, das keine Heimath hat, meinen Rossen was zustoßen thät’! Was hab’ ich denn so Besonderes gesagt? Der Mosje kann ja so gut umspringen mit den Hunden … möcht’ wirklich sehen, ob er mit dem Tiras auch fertig werden thät’ …“

Die letzten Worte verklangen fast im Rasseln des Wagens, denn der Wirth hatte auf die Pferde gehauen, daß sie in raschem Lauf dahin flogen, als ginge es in sicherer Ebene fort und nicht einen langen steilen Berg hinunter; kopfschüttelnd sah der Knecht dem tollen Beginnen nach und wandte sich dann mit unwilligem Murren dem Stalle zu: „Ist das ein Uebermuth!“ sagte er. „Den Berg so anzufahren … hoffentlich halten die Bräuneln an, da ist es wieder einmal gut, wenn das Vieh gescheider ist als der Mensch.“ …

Auch Juli sah dem enteilenden Fuhrwerk nach und starrte noch geraume Zeit, als dasselbe schon verschwunden war, in den sich rasch umwölkenden Himmel hinein. Das Wetter schien umzuspringen und ein kalter Westwind trieb dichte Wolkenmassen heran, die sich schon in einzelnen großen Tropfen zu entladen begannen. Sie gewahrte es nicht, denn ihre Augen waren trübe; sie war auf den ersten Anblick ganz dasselbe liebliche anmuthig-kindliche Mädchen, das sie gewesen, als nebenan im Gärtchen noch die Rosen geblüht – jetzt waren diese abgefallen und wer sie näher in’s Auge faßte, mochte wohl gewahren, daß ein ernster herbstlicher Hauch auch über ihr Antlitz dahingegangen war; in den Augen wohnte noch der frühere Glanz, aber diesmal waren es Thränen, die ihn hervorbrachten.

Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf, als wieder ein Windstoß durch die Obstbäume am Hause stürmte und ihr klatschend etwas vor die Füße warf – es war ein halbreifer vom Aste gerissener Apfel. Sie hob ihn auf und ein Zug tiefster Betrübniß ging über das hübsche Gesicht. „Ein schöner Apfel,“ sagte sie halb in sich hinein, „groß und voll und an der einen Seite fängt er schon an, roth zu werden – es muß eine der schönsten Blüthen gewesen sein, aus der er geworden ist, und doch ist er abgefallen – er hat nicht reif werden können, weil ihm der Wurm im Kernhaus sitzt.“ … Sie wollte ihn wegwerfen, hielt aber inne. „Nein,“ sagte sie, „ich will dich auf das Sims über meinem Bette legen und dich anschauen, wenn mir das Herz gar zu schwer wird – ich sorg’, es wird mir gehn wie dir, ich hab’ auch den Wurm im Kernhaus sitzen …“

Sie eilte die Stiege hinan, ihre vorstürzenden Thränen vor der herankommenden Magd zu verbergen.

Trübselig ging der Tag dahin, außer dem Hause, denn der Himmel richtete sich immer mehr zu einem kalten langwierigen Landregen ein, und in demselben nicht minder, denn bei dem schlechten Wetter blieben Gäste fern und der Zeiger der großen Standuhr in der Zechstube wollte nicht von der Stelle rücken, als ob es ihn verdrösse, in solcher Oede allein weiter zu wandern. Auch Juli spürte es heute, trotz aller Arbeit, die sie unternahm, doppelt, wie ihr das Haus so einsam geworden, in dem sie sonst sich so wohl und daheim gefühlt hatte, als wäre darin die ganze Welt umschlossen und alles Glück der Welt – beim Aufschlagen der Augen hatte sie es mit einem Lächeln der Freude begrüßt, um sich beim Schließen derselben auf das Wiedererwachen und den nächsten Tag zu freuen! Und als nun vollends der wohlbekannte Fremde von der Fraueninsel darin eingezogen, mit welchem Entzücken hatte sie immer seiner Rede zugelauscht!

Sie freute sich Morgens dem Augenblick entgegen, wo sie beim Frühstück dem lieben Gaste begegnete, und sehnte sich der Abendstunde zu, wo er, nachdem er den Tag über seinem Geschäfte nachgegangen, wiederkam und es ihr vergönnt war, ein Stündchen ihm gegenüber am Tische zu verplaudern und seinem Gespräche zu lauschen, denn er wußte so viel, daß sie eine Art Ehrfurcht vor ihm empfand, und doch war Alles, was er sagte, so klar und verständlich, als habe sie Alles das längst auch gedacht und gewußt und als sei es in ihr nur erst aufgegangen wie in der Erde der Keim, wenn ihn die Frühlingssonne belebt. Es wäre ihr nicht schwer geworden, ihm die halbe Nacht zuzuhören, aber es ging nicht an, des Vaters wegen, der wohl in den ersten Tagen dieselbe Freundlichkeit zeigte wie beim Empfange, dem man aber bald genug anmerken konnte, daß in dem gleichen Grade, in welchem die Thätigkeit des jungen Technikers sich entwickelte und bewährte, seine Theilnahme für ihn erkaltete und allmählich in unverhehlte Abneigung überging. Anfangs hatte er gelacht, wenn er der Neugier halber den Berg hinabgegangen war, um den Vorarbeiten und Vermessungen durch die Schluchten zuzusehen, weil er überzeugt war, daß sich gleich beim ersten Angriff die Thorheit und Unmöglichkeit des Unternehmens schlagend ergeben müsse; als er aber sah, wie vor dem richtigen Blick des gewandten Meßkünstlers die größten anscheinenden Schwierigkeiten sich in nichts auflösten, wie das Ausstecken der Bahnstrecke immer weiter in den Schluchten vordrang und zuletzt auch dem unkundigsten und hartnäckigsten Zweifler sich die Ueberzeugung aufdrängte, daß es nur einiger verhältnißmäßig unbedeutender Durchlässe, Abstiche und Einschnitte bedurfte, um das als unmöglich verschrieene Werk zu vollenden: da kam der Bergwirth nicht mehr, er hatte die Lust verloren, den Arbeiten zuzusehen. Er ward immer wortkarger, immer schroffer in seinem Benehmen gegen den Gast, und wenn er ihn eine Weile doch noch gegrüßt und hier und da ihm eine verbissene spöttische Bemerkung zugeworfen hatte, grüßte er ihn halb gar nicht mehr und schien zuletzt seine Anwesenheit gar nicht mehr zu gewahren.

Wohl that Juli, deren geschärftem Auge nichts entging, Alles, was in ihren Kräften stand, die drohenden Gewalten auseinander zu halten, aber sie war klug genug, um einzusehen, daß das auf die Dauer unmöglich sein werde und der Zusammenstoß jeden Augenblick erfolgen könne; dennoch war sie wie vom Donner gerührt und fühlte das Herz still stehen, als Falkner eines Abends nach dem Essen ihr die Hand reichte und mit einem Tone, der ihr noch in den Ohren fortklang, mit einem Blick, den sie nicht wieder aus den Gedanken brachte, ihr die Mittheilung machte, daß seine Arbeiten nunmehr seine vollständige Anwesenheit bei denselben erforderten, daß er daher diese Nacht zum letzten Male ihr Gast sei und künftig im Thalgrunde in der Mühle unweit der Niederpoint wohnen werde.

Dort war im Laufe des Nachmittags das gefürchtete Zusammentreffen erfolgt und hatte die vollgeladenen Minen mit Einem Schlage zur Explosion gebracht. Die Niederpoint war der letzte Abhang gegen das Wiesenthal und die Mühle hin und ein so schönes Stück Landes, daß die Vorliebe des Bergwirths für dasselbe ebenso erklärlich als natürlich war. Es war ein ungemein lieblicher Platz; in sanfter Neigung senkte sich der Hügel zu Thal, mit dem schönsten und üppigsten Rasen bekleidet, aus welchem wie in einem Garten eine Menge stattlicher Eichen sich erhob, theils einzeln, theils in Gruppen getheilt, wie keine Kunst sie anmuthiger zu formen vermocht hätte. Das Ganze war von einem schönen hochstämmigen Fichtenwalde umkränzt, der auf’s Sorgsamste gehegt war, so daß, wenn er in einem Jahrzehnt schlagbar geworden, er sogleich mit dem schönsten jungen Anfluge bestanden erschien, an dem ein kundiges Auge sich erfreuen mußte. Den Baumeistern selber that es leid, daß gerade diese schöne Stelle dem Schicksale theilweiser Zerstörung nicht entgehen konnte, denn die Bahn mußte, um eine weite und nutzlose Krümmung zu vermeiden, den Hügel fast bis zur halben Höhe hinauf anschneiden, und gerade die schönsten Bäume standen auf dem Grunde, der zu diesem Zwecke abgegraben werden mußte. Dazu kam die unvermeidliche Verwüstung des schönen Angers und der breite Durchhieb, der durch den schönen Fichtenwald zu führen war und überdies noch zur Einen Seite einen Rand liegen ließ, der forstmäßig nicht mehr zu bewirthschaften und werthlos war.

Mit schwerem Herzen, vielleicht mit einer Art Vorgefühl, ging Falkner daran, den für das Bahngebiet nöthigen Grund durch Einschlagen von Pflöcken zu bezeichnen und die Bäume anzuschlagen, welche dem Beile verfallen sollten, er hatte jedoch kaum damit begonnen, als der Bergwirth gleich einem Rasenden herbeistürzte, die Pflöcke aus dem Boden riß und ihm zuschrie, er solle die Arbeit einstellen, er dulde solchen Eingriff in sein Eigenthum nicht und werde Jeden niederschlagen, der noch mit einem Fuße seinen Grund und Boden zu betreten wage. Vergebens setzte ihm Falkner mit dem Aufgebot aller Ruhe und Besonnenheit auseinander, daß mit diesen blos vorbereitenden Arbeiten ein Eingriff in seine Rechte auch nicht entfernt beabsichtigt sei, daß aber dem Staate nach der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_371.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)