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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

der Staatsanwalt. Der Vorsitzende des Gerichts, ein schon bejahrter Herr, beseitigte von Anfang an jede Illusion einer Bevorzugung. Die Art und Weise, wie er die Verhandlung eröffnete, ließ es keinen Augenblick zweifelhaft, daß er auf die gesellschaftliche Stellung der Angeklagten keinen Werth legte, daß er an dieser Stelle ausschließlich gebieten wolle und gebieten werde, und daß diesem Gebote jeder Anwesende sich willig fügen müsse. Nachdem er sich durch einen raschen Blick überzeugt hatte, daß jeder Betheiligte den ihm angewiesenen Platz eingenommen hatte, sagte er laut und scharf: „Ich ersuche den Herrn Staatsanwalt, die Anklage vorzutragen, und die Angeklagte fordere ich auf, sich von ihrem Sitze zu erheben, und dem Vortrage des Herrn Staatsanwalts aufmerksam zu folgen.“

Die Angeklagte blieb sitzen. Ich bemerkte aber, daß ihr Gesicht sich entfärbte, daß alles Blut daraus verschwand, um wenige Secunden später in größerer Menge dahin zurückzukehren. Auch der Vorsitzende mußte dies wahrgenommen haben. Sein nach der schwarzen Bank gerichteter Blick wurde stechend. Die Mißachtung seiner Aufforderung erregte ihn. Er unterbrach den Staatsanwalt und sagte mit noch schärferer Stimme: „Ich habe die Angeklagte aufgefordert, sich von ihrem Sitze zu erheben. Wenn nicht besondere Gründe vorhanden sein sollten, die anzugeben sein würden und bezüglich der Erheblichkeit ausschließlich meiner Beurtheilung unterliegen, muß ich auf Befolgung meiner Anordnung bestehen. Ueberhaupt mache ich im Voraus darauf aufmerksam, daß jede Forderung, welche von dieser Stelle aus an die Angeklagte gestellt wird, reiflich erwogen und willig zu befolgen ist.“

Die Angeklagte erhob sich, aber zögernd und erst dann, als ihr der Gatte leise einige Worte zugeflüstert hatte. Ihr Gesicht hatte mit einem Male einen andern Ausdruck erhalten. Die Augen lachten nicht mehr, der Blick haftete auf der Lehne, welche die Grenze bildete zwischen Angeklagte und Vertheidiger, der schön geformte Mund war fest geschlossen, die Lippen fest aneinander gepreßt, und beide Hände umschlossen den Fächer, als ob dieser unter dem Drucke zerbrechen solle.

Die Worte des Vorsitzenden mußten die Angeklagte tief verletzt und eine Erregung hervorgerufen haben, welche in Bezug auf die Vertheidigung leicht schlimme Folgen haben konnte. Allem Anschein nach fühlte die Angeklagte sich in ihren Erwartungen bitter getäuscht. Es war die Einleitung zu einer Buße von schwerem Gewicht. Auf den Vortrag des Staatsanwalts schien die Angeklagte gar nicht zu achten. Sie starrte vor sich hin, und nur von Zeit zu Zeit machte sich die Brust durch ein tieferes Athemholen von dem auflastenden Drucke frei. Der Vortrag des Staatsanwalts war beendigt, die Angeklagte hatte auf die Frage des Vorsitzenden: „ob sie sich schuldig bekenne,“ ein „Nein“ herausgestoßen, es begann das specielle Verhör.

Die Anklage gründete sich auf eine Bestimmung des Strafgesetzbuchs, welche mit bloßen Augen kaum zu erkennen ist, die erst durch Zuhülfenahme der Lupe klar wird, auf eine Bestimmung, die im Laufe eines Tages von Arm und Reich, Vornehm und Gering in gutem Glauben unzählige Male übertreten wird, und die, wenn die Uebertretung in jedem einzelnen Falle gerügt und mit Gefängnißstrafe geahndet werden sollte, die Gefangenenanstalten in kurzer Zeit überfüllen und als unzureichend darstellen würde. Diese Bestimmung lautet:

„Wer in Beziehung auf einen Anderen unwahre Thatsachen behauptet oder verbreitet, welche denselben in der öffentlichen Meinung dem Hasse oder der Verachtung aussetzen, macht sich der Verleumdung schuldig.“

Also nicht allein der Erfinder, sondern auch der Wiedererzähler einer solchen unwahren Thatsache ist ein Verleumder, und unterliegt dem Strafgesetze. –

„Angeklagte,“ begann der Vorsitzende das Verhör, „Sie befanden sich am Abend des 11. Januar in dem großen Saale des Ressourcengebäudes, in welchem die Gesellschaft einen Ball veranstaltet hatte. Mit Ihnen waren dort noch eine große Zahl Herren und Damen anwesend. Gestehen Sie dies zu?“

„Ja!“

„Sie machten dort einigen Damen laut und in lebhafter Sprechweise Mittheilungen. Erinnern Sie sich dessen und wollen Sie diese hier wiederholen?“

Es erfolgte keine Antwort.

„Ihr Schweigen,“ erklärte der Vorsitzende nach einer kleinen Pause,. „nöthigt mich, Ihnen specielle Fragen zur Beantwortung vorzulegen. Ist Ihnen der Gerichtsassessor B. bekannt?“

„Ja.“

„Sie haben gewiß auch davon gehört, vielleicht auch gelesen, daß der Gerichtsassessor B. mit Fräulein M. verlobt ist. Die Verlobung ist ja von den Betreffenden öffentlich bekannt gemacht. Nicht wahr, Sie haben davon Kenntniß gehabt?“

„Ja.“

„Die Mittheilungen, welche Ihnen zum Vorwurf gemacht werden, stehen mit der Person des Gerichtsassessors B. in genauester Verbindung. Mit diesen Andeutungen glaube ich Ihrem Gedächtnisse zu Hülfe gekommen zu sein, und ich erwarte nun von Ihnen die Wiederholung Ihrer Mittheilungen.“

Die Angeklagte schwieg, aber ihr Kopf hob sich hoch und der Blick richtete sich nach dem Vorsitzenden. Dieser Blick war äußerst beredt. Er bat um Zurücknahme der Aufforderung, um Erlaß der Wiederholung der früher gemachten Mittheilungen.

Der Vorsitzende beachtete die stumme Bitte nicht; er durfte das nicht. Als die Angeklagte in ihrem Schweigen verharrte, sagte er:

„Ich muß die Angeklagte noch damit bekannt machen, daß an dieser Stelle ein offenes, ein unumwundenes Eingestehen der Schuld in der Regel zur Milderung gereicht, das geflissentliche Verheimlichen derselben dagegen jede Milde auszuschließen pflegt.“

Diese Mahnung, die gewöhnlich ist, weil sie jedem Beschuldigten gemacht wird, versetzte die Angeklagte in eine unbeschreibliche Aufregung.

„O mein Gott, mein Gott,“ rief sie, indem sie beide Hände vor das Gesicht schlug, „was habe ich denn Böses gethan?“

Der Vorsitzende blieb auch bei diesem Ausrufe kalt. Er wartete nur einige Minuten, und als nach dieser Zeit keine weitere Erklärung folgte, nahm er das Verhör wieder auf.

„Sie hatten sich am Ballabend verspätet und wurden deshalb von Ihren Freundinnen mit Vorwürfen empfangen. Sie entschuldigten sich damit, daß die Nähterin Sie habe warten lassen, und bemerkten dabei, daß Ihnen die Zeit gar nicht lang geworden sei, weil ‚Marie‘ – so wird ja wohl die Nähterin gewöhnlich genannt – Ihnen, wie Sie gesagt haben sollen, ‚pikante‘ Geschichten erzählt habe. Nun wurden Sie bestürmt, diese Geschichten wieder zu geben. Ist dies Alles wahr?“

„Ja!“ hauchte die Angeklagte kaum vernehmbar.

„Sie ließen sich auch erbitten. Sie erzählten, natürlich weitläufiger, als ich dies wiederzugeben für gut finde, ungefähr Folgendes: Der Gerichtsassessor B. pflege Orte zu besuchen, an welchen heimlich und versteckt Hasardspiele getrieben würden. Er habe an diesen Orten erhebliche Verluste erlitten und sei in Folge dessen arm wie eine Kirchenmaus. Seine zahlreichen Gläubiger ließen ihn gar nicht mehr zur Ruhe kommen, er vertröste sie sämmtlich auf die Mitgift seiner zukünftigen Frau. Ist dies so richtig?“

„Ja! Marie,“ fügte die Angeklagte hinzu, „hatte mir das kurz vorher als eine Neuigkeit erzählt.“

„Aber Sie sagten noch mehr,“ fuhr der Vorsitzende fort. „Sie erzählten, wiederum sehr weitläufig: am Tage vorher habe der Gerichtsassessor B. unerwartet Besuch erhalten. Eine Dame aus Berlin, wo B. sich früher aufgehalten, habe sich bei ihm eingefunden und unter Hinweis auf die Nothwendigkeit die Verwirklichung gegebener und bindender Versprechungen gefordert. Ist das auch richtig?“

„Ich erzählte nur, was ich vorher von der Marie erfahren hatte –“

„Danach habe ich nicht gefragt,“ unterbrach der Vorsitzende hart und scharf. „Ich muß Auskunft darüber haben, ob Sie meinen Vorhalt in seinem ganzen Umfange anerkennen, oder ob und was Sie davon berichtigen wollen. Sie sagten allerdings noch weit mehr. Sie beschrieben namentlich drastisch die Persönlichkeit der fremden Dame, ihren augenblicklichen Zustand und die Art der Versprechungen, welche der Gerichtsassessor B. gemacht haben sollte und nun nicht erfüllen wolle. Auf diese Einzelnheiten will ich indeß gar nicht zurückkommen; ich lege darauf keinen Werth, weil sie bei der Feststellung des objectiven Thatbestandes entbehrlich sind. Es genügt mir, wenn Sie auf meine erste Frage mit Ja oder Nein antworten. Nun?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_350.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)