Seite:Die Gartenlaube (1870) 347.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

germanischen Altertums. Die Frucht dieser Studien war ein modernes Nibelungenepos. Nach langem Zwischenraum tauchte der Parlamentsredner als „Rhapsode“ auf und wanderte von Stadt zu Stadt, von einem deutschen Gau zum andern, in der Reisetasche die blonde Chriemhild und die wilde Brunhild, und erweckte durch sein lebendiges Wort die Theilnahme der Hörer für seine dichterische Schöpfung.

Sie wundern sich, Madame, über dies neue umherziehende Rhapsodenthum? Sie meinen, die Jünger Homers und die alten Barden mochten selbst ihre Gesänge vortragen, weil sie kein anderes Mittel hatten, um sie bekannt zu machen; aber seitdem die Kunst Gutenberg’s besteht, bedürfe es solcher Auskunftsmittel nicht mehr. Wie engbeschränkt erscheine der Kreis, den der mündliche Vortrag beherrscht, gegenüber der weltumfassenden Verbreitung durch die schwarze Kunst!

Ach, wenn doch die herrlichsten Erfindungen des Menschengeistes sich nicht abstumpften, oder nicht den Stachel gegen sich selbst kehrten! Johannes Gutenberg möge uns verzeihen, wenn wir behaupten, daß gegenwärtig seine Kunst ebenso oft dazu dient, die Werke des Geistes zu verbergen als zu verbreiten. Sie glauben nicht, Madame, in welch’ tiefer Vergessenheit ein Band gedruckter Gedichte schlummern kann! Versteckter waren sie nicht im Schreibpulte des Dichters, als sie es sind in den obern Fächern der Buchläden, auf den Dachböden und in den Lagerhäusern der Verleger. Es ist ein trauriges Loos, als Maculatur das Licht der Welt zu erblicken – aber bei den vielen hundert schönwissenschaftlichen Werken, die alljährlich erscheinen, ist dies Loos das unvermeidliche Verhängniß der großen Mehrzahl. Darf man es da den Dichtern verargen, wenn sie dies Schicksal zu verbessern und durch das lebendige Wort den todten Buchstaben zu galvanisiren suchen? Hat nicht der Verkehr zwischen Dichter und Hörern durch den Eindruck der Persönlichkeit, durch die Macht der Rede einen erfrischenden Reiz?

Sie lächeln, Madame – ich errathe Ihre Gedanken. Vor Ihrer Seele schwebt das Bild der beiden Poeten, welche Sie einst bei sich auf Ihrem Schlosse sahen und welche einer auserlesenen Gesellschaft ihre Gedichte vorlasen, der eine stotternd, der andere näselnd, und jeder mit so mörderischer Virtuosität, daß kein Gedicht Schiller’s oder Goethe’s diese Execution überlebt haben würde.

Sie haben Recht! Es bedarf einer gewissen Gunst der Natur, wenn ein Dichter als Rhapsode auftreten will, und außerdem eine Kunst des Vortrags, welche indeß nie in theatralische Declamation ausarten darf. Wilhelm Jordan ist durch seine Persönlichkeit wie durch sein Organ begünstigt, er besitzt die Gabe eines episch ruhigen, sinnig verweilenden, hier und dort machtvoll anschwellenden Vortrags und weiß so die Hörer anzuziehn und zu fesseln. So fand er auch die Theilnahme der Leser für seine, bereits in zwei Auflagen vorliegende Dichtung: „Nibelungen. Erstes Lied: Siegfridsage in einundzwanzig Gesängen. Zwei Theile. (Frankfurt a. M.)“

Sie kennen, Madame, unser Nibelungenepos, jenen Kranz, zu welchem ritterliche Sangeskunst die alten Sagen sinnig gewunden hat. Jordan denkt gering von diesem in Sammt und Seide einherstolzirenden Rittergedicht; er sucht die echte Volkspoesie in den tieferen, älteren Schichten der Ueberlieferung, in der „Edda“ und „Völsungasage“. Dort findet er, wie ich es einmal in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ aussprach, die reckenhafte Größe, das unverfälschte germanische Heidenthum; er gräbt die poetischen Mammuthknochen der ultima Thule hervor, die gleichsam in den Eispalästen des Nordens conservirten Götter- und Heldensagen, und seine Muse kommt mit Gigantenschritt, reich beladen mit flimmernden, seltenen Schätzen, von dieser Polarexpedition zurück, Eisreif und Schneenebel in den wallenden Locken.

Eine Gestalt, die Brunhild der alten Sage, hat Jordan mächtiger hingestellt, als unser deutsches Nibelungengedicht und seine Nachdichtungen; mächtiger noch, als der Dramatiker Hebbel, der sie bereits mit greller Magie durch die vulcanischen Flammen des nordischen Feuereilands beleuchtet hat und ihr visionäre Verzückungen einer gleichsam im Eisespanzer erstarrten Jungfräulichkeit, geheimnißvolle Orakelsprüche voll tiefsinniger Weisheit in den Mund legt. Doch Hebbel läßt seine dämonische Heldin plötzlich aus dem Verlaufe seines Trauerspiels entschwinden, während Jordan’s Brunhild mit urwüchsiger Gewaltigkeit von Anfang bis zu Ende die Dichtung beherrscht. Und wenn wir ihrem unheimlich majestätischen Gang folgen, so finden wir gerade auf ihrem Wege die bedeutsamsten Schönheiten des Gedichts erblüht. Ihre Entzauberung im vierten Gesang ist von großartig phantastischem Reiz; die Räthselrunen, welche die nordische Turandot aufgiebt, haben zwar nichts mit Schiller’s durchsichtigen, krystallschönen Räthseln gemein, noch weniger mit unsern modernen Familienrebus; sie haben etwas Aufgebauschtes, Verschnörkeltes und gleichen grotesken Nebelbildern; aber gerade dies giebt ihnen einen alterthümlichen Reiz.

Im elften Gesange sehen wir die wilde Jungfrau auf dem meerumschäumten Felsen sitzen und mit den Elementen Zwiesprache halten, nicht in weitausgesponnenen Allegorien, sondern in schlaghaften Selbstbetrachtungen voll kühnen Zweifels und mächtigen Trotzes, wie sie die weltstürmenden Gedankenhelden der Neuzeit lieben. Die Poesie bleibt doch immer ein Kind ihrer Zeit, mag sie auch ihre Stoffe aus dem grauesten Alterthume wählen. Diese verwitterten Sagenheldinnen, deren Kolossalbilder uralte Ueberlieferung gleichsam in den Felsen gehauen hat, schmücken in Jordan’s Dichtung ihre Stirn mit einem Kranze von Gedankenblüthen, die in den Gärten der neuen Philosophie gewachsen sind; der Meeresfelsen der Brunhild verwandelt sich in den Katheder von Jena und Berlin, wo einst Fichte die weltschöpferische Macht des „Ich“ verkündete; ja das prächtig schöne Nornenlied, ein Juwel der Jordan’schen Dichtung, ist doch nur eine Feier der dunkelwaltenden Nothwendigkeit, wie sie der einsame glasschleifende Denker von Amsterdam als die Seele des Weltalls und das Band der Dinge erkannte.

Ja, Madame, und wenn unsere Dichter noch weiter in die Urzeit zurückgingen und eine Heldin aus der Zeit der Pfahlbauten wählten und sie Zwiesprache halten ließen mit dem Monde, der in ihrem heimathlichen See sich spiegelt, oder ein Lied singen zum Preise der „Steinbohrer“, von denen der schönste Jüngling ihr Herz gewonnen hat, so würde unser Denken und Empfinden auch diese altersgraueste Cultur ankränkeln und die Dichtung uns vielfach gemahnen wie eine neueste Dorfgeschichte, die nicht auf dem Schwarzwalde, sondern auf den Pfahlbauten spielt. Darum sollen unsere Dichter nur Stoffe der Neuzeit wählen; ältere Stoffe werden entweder „modernisirt“, das heißt ihre Façon wird umgebogen und ihre Farbe oft ausgewaschen – oder sie verlieren, bei treu alterthümlicher Haltung, die Sympathien der Gegenwart.

Jordan’s Brunhild zeigt sich uns noch einmal in ihrer dämonischen Schönheit in der Badescene, welche der Dichter mit künstlerischem Auge belauscht hat, und in ihrem Flammentod, einem jedenfalls großartigen, für die gewaltige Walkyre geeigneten Abschluß.

Wenn die wildschönen Partieen des Gedichtes sich an die Schicksale der Brunhild knüpfen, so verbreitet die sanfte Chriemhild einen milden Reiz über die Gesänge, deren Heldin sie ist. Wie anmuthig dargestellt ist Siegfried’s Brautwerbung, wie rührend sein Abschied! In diesen Schilderungen mischt sich deutsche Innigkeit mit jener antiken Naivetät, wie sie der Vater der Dichtkunst, der Grieche Homer, seinen unsterblichen Gesängen eingehaucht hat.

Doch neben diesen Glanzstellen der Dichtung im großartig Gewaltigen und lieblich Zarten findet sich auch viel Unbedeutendes und Ermüdendes von epischer Breitspurigkeit, ohne Anziehungskraft, Nachdichtungen eines sagenhaften Stoffes, der für uns in vielen Hauptzügen ungenießbar ist. Was soll uns der Prolog im Himmel, was der Congreß der altdeutschen Götter, deren Eingriffe in das Menschengeschick ja nur die freie Entfaltung der Charaktere stören können? Selbst unser Nibelungenepos hat diese himmlische Ouverture verschmäht. Der ganze Knäuel altnordischer Sagen mit ihrer unschönen und oft bedeutungslosen Bildlichkeit entwirrt und verwirrt sich wieder in mehreren langathmigen Gesängen der Dichtung, während die Schilderung altgermanischer Sitten, wie der Kampf- und Ringspiele, in ihrer Aeußerlichkeit doch nur Interesse für den Alterthumsforscher hat. Denn wo das culturhistorische Museum anfängt, hört die Poesie auf.

Eigenthümlich ist auch die Form der Dichtung; ich müßte einen sehr gelehrten Vortrag halten, Madame, wenn ich Ihnen diese originelle Gewandung auseinanderhefteln wollte. Ihr Schnitt ist zwar ein urdeutscher, aber desto fremdartiger für die Gegenwart. Sie müssen alles vergessen, Madame, was Sie von deutscher Verskunst gelernt haben, am wenigsten aber „Füße“ zählen wollen; denn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_347.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)